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1.August 2002

Im August 1976, wahrscheinlich in seiner ersten Hälfte, waren G. und seine Freundin Christina S. und andere von einer längeren Motorradreise wieder in die „Karga“ zurückgekehrt und saßen nachmittags – es war heiß – auf dem kleinen Blechbalkon an der Nordseite meines Zimmers, der aber vom Hausflur aus betreten wurde, und ich bemerkte, als ich durch das von Stores vor Blicken von außen etwas abgeschirmte Fenster sah, jemanden, den ich nicht kannte; ein attraktiver schlanker junger Mann in kurzen Hosen, barfuß, vielleicht siebzehn Jahre alt, hockte auf einem der wackligen Stühle bei den anderen; ich ging aus dem Zimmer hinaus und auf den Balkon, um am Geplauder eher sparsam teilzunehmen. Irgendetwas mußte ich ja sagen, um ihn auf mich aufmerksam zu machen, als stummer Fisch ist man nicht sehr attraktiv. Es ergab sich rasch, daß er mit übereinander geschlagenen Beinen in meinem Zimmer auf dem Boden hockte, in seinem Unterhemd und seiner kurzen Hose, und das erotische Verlangen stieg in seiner natürlichen Weise in mir hoch. Ich mußte es stark vergewaltigen, um es niederzuhalten – aber warum tat ich das? Dieser gut aussehende intelligente Siebzehn- oder Sechzehnjährige, Christinas Bruder, war, wie sich rasch herausstellte, literarisch interessiert, lebte in Wien, wie ich mich glaube zu erinnern, sprach aber gar kein Wienerisch; für ein paar Tage wollte er sich in Biberach aufhalten, seine Schwester hatte ihn irgendwo aufgegabelt. Gern hätte ich ihm sofort geil den Schwanz gelutscht, ihn im Arsch geleckt und noch anderes mit ihm getrieben; stattdessen unterhielten wir uns gesittet über Literatur und stellten fest, daß wir beide den Stuttgarter Schriftsteller Hermann Lenz gelesen hatten – was mich bei ihm doch überraschte, schließlich dachte ich, Lenz sei so etwas wie ein Geheimtipp, und daß ein Schüler ihn las, das wunderte mich doch. Ich erzählte ihm, während ich die Erektion niederkämpfte, wie ich ein gutes Jahr zuvor, im Frühjahr 1975, eines Stuttgarter Sonnennachmittags mit der Straßenbahn am Lenz’schen Haus vorbeigefahren sei, und zu jener Stunde hätte ich doch in der Vorlesung des Konservativismus-Experten Greiffenhagen sitzen sollen. Ich hatte mich lieber in der Stadt herumgetrieben. Wir quatschen über dies und das, tranken Whisky, rauchten Selbstgedrehte, während Begierde und edle Zurückhaltung mich innerlich, wieder einmal, langsam in kleine Stücke zerrissen. Es wurde Abend. Wir hörten mit dem Reden gar nicht mehr auf; A. verließ das Zimmer, um sich wieder im Haus sehen zu lassen, kam zurück. Ich konnte mich nicht überwinden, ihn anzumachen. Irgendwann in der Nacht ging er dann und ich fiel, die Whiskyflasche hatten wir gut geleert, auf’s Bett. Mit Brummschädel, üblem Geschmack auf der Zunge und einer Fahne verließ ich am späten Vormittag das Zimmer und Christina sagte mir im Vorübergehen in verhalten mißbilligendem Ton, ihr Bruder habe kotzen müssen, „was hast du denn mit ihm gemacht?“ Ich stand also unverdient unter Verführungsverdacht, was meine Laune nicht besserte. Sie nahm es wohl als selbstverständlich an, ihr kleiner Bruder, hätte ich ihn „rumgekriegt“, hätte danach kotzen müssen. Jedenfalls traute sie mir eine solche Unternehmung zu; na dann. „Gar nichts“, raunzte ich genervt, „er hatte vermutlich zuviel Whisky intus.“ Ich wünschte in diesem Augenblick erst recht, ich hätte etwas „gemacht“.
Einige Wochen danach, langsam wurde aus dem heißen Rekordsommer ein warmer Herbst, brachte Christina mir übrigens drei Fläschchen original mexikanischen Tequilas von ihrer Lateinamerika-Reise mit; irgendwie – durch A. vermutlich – hatte sie mitbekommen, daß ich während des Sommers neben anderem auch Malcolm Lowrys Roman „Unter dem Vulkan“ las; in dem der versoffene Konsul mehrfach feststellt: „Etwas Schwächeres als Mesqal würde nichts nutzen.“ In Ermangelung echten mexikanischen Mesqals schluckte ich also diese Tequila-Flaschen leer, und eines Abends klopfte es an meiner Tür und Bernd H., damals noch in Tübingen wohnhaft, der gelegentlich nach Biberach zu den Eltern kam, trat ein. Er kannte das Zimmer, er hatte zwei Jahre zuvor in ihm gewohnt. Er sah die Wand über meinem Schreibtisch hinauf, ob das Einschußloch, das er in einer unruhigen Stunde mit einer Pistole produziert hatte, noch zu sehen war. Ich hatte seine Existenz längst vergessen; aber da ich das Zimmer nicht renoviert hatte, als ich einzog, die Rauhfasertapeten und die Zimmerdecke nicht gestrichen hatte, bei welcher Gelegenheit das etwas ausgefranste Loch in der Wand oben mit einem halben Spachtel voll Gips unsichtbar geworden wäre, war es noch da. Ich stellte ein zweites Gläschen auf den Tisch und wir machten uns zu zweit über das goldgelbe Gesöff her. Es half tatsächlich nicht sehr.
- Heiß, schwül; im Laufe des späten Nachmittags setzte ein schwacher Regen ein, der allmählich stärker wurde. Himmelsverdüsterung. Zwei-, dreimal Gewittergrollen, aber ein Unwetter blieb aus.
1.August 2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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