10.7.2002
Am Abend des 29. Juni 1997 fuhr ich nach Köln und kam dort in der frühen Nacht an, bezog in einem unwichtigen Hotel in einer schmalen Straße vor dem Bahnhof ein Zimmerchen und legte mich, ein völlig ungewohnter Vorgang, in das Hotelbett. Am Sonntag vormittag nahm ich an einem Seitentisch im Frühstücksraum einen Happen zu mir und machte mich dann auf, das Haus von Prof. Dr. Speck in Köln-Lindenthal zu finden, wo die Matinée der Marcel Proust Gesellschaft stattfand. Ich nahm die U-Bahn und fuhr dann über zwei oder drei Stationen mit der Straßenbahn und fand die Gegend, dank des Stadtplans, den ich mir Tage zuvor in Biberach gekauft hatte, auch ohne Zeitverlust oder suchendem Umherirren, ja, ich hatte bis zum Beginn, 11 Uhr, dieser festlich-alljährlichen Zusammenkunft der Proustianer noch genügend Minuten vor mir, die ich dazu nutzte, in der bewaldeten Umgebung des Anwesens des Professors Speck ein wenig herum zu spazieren. Schließlich schritt ich gemächlich zurück und verzögerte, je näher ich dem Haus, das mir von der Straße aus eine schöne Villa zu sein schien, kam, das Gehen, in der Hoffnung, andere Eingeladene kämen nun allmählich heran und zeigten mir sozusagen, wo und wie das Haus zu betreten wäre. Und so geschah es. Zwei Damen näherten sich und betraten das von einer Hecke abgezäunte Areal des nicht sehr breiten Vorgartens und klingelten an der stilvollen Haustür. Diese wurde geöffnet, den Damen und mir hinter ihnen wurde freundlich Einlaß gewährt, ich betrat einen Flur, an dessen Wand ich ein Bild von Sigmar Polke hängen sah. Ich wußte, daß der Hausherr ein bekannter Sammler von Werken Joseph Beuys‘ war, und ist, wie ich annehmen kann; diesen Polke so selbstverständlich uninszeniert an der dunklen Wand zu sehen war nun ein Anblick, der mir eine Einsicht in eine mir nicht eben sehr vertraute Art von Alltäglichkeit und Lebensführung gestattete. Ich ging einige Schritte ins Haus hinein und fand mich in einer Bibliothek von annähernd quadratischem Grundriß, in der zwei schwere dunkle Ledersessel im Bauhausstil monolithisch ruhten, wieder, und drei Wände und eine Zwischenwand, die vor einer Tür zum weitläufigen Garten, der durch das Fenster einer anderen Wand einzusehen war, sie vom Raum der Bücher ein wenig abtrennend, in den Raum hinein stand, waren von Büchern bedeckt; Proust-Ausgaben in verschiedenen Ausstattungen, aus den zahlreichsten Ländern; und eine Petrarca-Sammlung, die ihresgleichen zu finden wohl größere Schwierigkeiten gehabt hätte. Ich verharrte fasziniert vor den Proust-Büchern; stand da nicht auch eine chinesische Ausgabe? Welchen Eindruck mochte Swann bei den Lesern, die die Große Proletarische Kulturrevolution erfahren hatten, hinterlassen haben? Professor Speck kam – bevor ich die Bücherwände inspizierte (so darf man wohl im Haus eines Mediziners schreiben) – schnellen Schritts herein, begrüßte die beiden Damen und mich, sagte, er habe noch eine kleine Weile etwas zu tun, man möge sich ganz nach Belieben ergehen; ein Mann mit einer kraftvollen Ausstrahlung. Stetig trafen nun Gäste ein; in elegantem Habitus; gruppierten sich im Garten, in dem weiße Zelte im Rasen unter den Wipfeln der den Garten umstehenden Bäume aufgespannt worden waren. In einem Seitentrakt durften Getränke – Wein, Saft – entgegengenommen werden. Ich holte mir ein Glas Orangensaft, ging langsam zwischen den Anwesenden herum, von denen mir vermutlich etliche als Namen auf Büchern und in Zeitungen und Zeitschriften bekannt waren, aber diese Namen konnte ich natürlich den Gesichtern nicht zuordnen; Publizisten, Kritiker, Verleger, versierte Kenner und Liebhaber des Proustschen Oeuvres sie alle. Fast fühlte ich mich, in solcher Gesellschaft, wie auf einer der Matinéen im Pariser Kosmos des Schriftstellers. Man nahm dann, an die hundert, wenn nicht mehr, Personen, Damen, Herren, in mittlerem Alter die meisten, Platz auf seitlich der Gartenfront des Hauses aufgestellten Stühlen; es wurde mit den Vorträgen zu Aspekten von Prousts Werk begonnen: „Proust hört Debussy am Théatrophone“, „Madame Proust, ein pathogene Mutter?“; und andere, auf die ich in dieser Minute in den „Proustiana XX“, dem Mitteilungsblatt der Marcel Proust Gesellschaft e.V., blicke. Nach den Vorträgen der Lunch: Shrimpssuppe mit Baguettebrot, dazu wurde Weißwein getrunken. Ich trank O-Saft. Der Nachmittag wurde wärmer, sonniger, die Proustianer unterhielten sich, viele auf dem Rasen, unter den Zeltdächern sitzend. Auch ich setzte mich in eine der provisorischen luftigen Hütten. Klaviermusik aus Prousts Jahren perlte aus den geöffneten Fenstern des oberen Stockwerks der Villa. Die ganze Atmosphäre war sehr stimmungsvoll. Wieder las ein Herr, unter den Bäumen, einen Vortrag zur „Recherche“. Dann war es an einem anderen Teilnehmer in einer anderen Ecke des Gartens, seine Erkenntnisse vorzulegen. Dann regnete es ein bißchen. Danach zog ich mich zum Haus zurück; ich dachte an Abreise, mein Zug fuhr am frühen Abend. Professor Dr. Speck kam in seine Bibliothek, in der ich vor den Vorträgen schon in einem Bildband zu Kafkas Leben gelesen und geblättert hatte, in der ich nun wieder, die Nähe der Bücher suchend, stand, und ich ergriff die Gelegenheit, mich von ihm zu verabschieden, mich für den sehr anregenden Tag zu bedanken und ihm eine Kassette des Videofilms, den V. L. und ich und das Team ein Jahr zuvor gedreht hatten, zu überreichen; weil er doch auch das Thema des Erinnerns bebilderte ..., und in ihm auch der Satz: „Es war die Zeit der Bücher mit den langen Sätzen ...“ gesprochen, aber im inneren Monolog nur, wurde, und Prousts Sätze waren damit natürlich gemeint gewesen; aber vielleicht war es auch keine gute Idee gewesen, die Kassette nach Köln mitzunehmen. Speck schrieb sich meine Adresse noch einmal auf. Ich verließ das Haus, fuhr mit der Tram zur nächsten U-Bahn-Station, zum Bahnhof, holte mein Köfferchen aus dem Schließfach, das ich am Vormittag dort deponiert hatte, stellte mich auf den Bahnsteig, fuhr dann ab. Im Zug sprach mich eine halbe Stunde später jemand an: ich sei doch auch auf der Matinée der Proust-Gesellschaft gewesen! Ich erinnerte mich an den Mann mit längeren Haaren, auch er hatte, auf der Terrasse, am Nachmittag etwas verloren in der noblen Gästeschar gewirkt. Er war, wie sich im Gespräch herausstellte, Maler, lebte in der Nähe von Freiburg, der Professor Speck habe ihn, wohl eher in seiner Eigenschaft als Kunstsammler, eingeladen. Hatte er auch etwas von diesem Maler gekauft? Ich weiß es nicht mehr. Wir unterhielten uns, bis der Zug in Mannheim einfuhr. Wir tauschten Adressen. Ich stieg aus, er fuhr weiter. Der Zug, der von Mannheim nach Ulm fahren sollte, hatte, wie die Lautsprecherdurchsage mitteilte, Verspätung. Ich telefonierte mit einer Telefonkarte vom Bahnsteig aus nach Biberach. Rief Sabine R. an, ob sie mich spätabends am Ulmer Hauptbahnhof abholen könne, den letzten Anschlußzug nach Biberach könne ich nicht mehr erreichen. Sie sagte zu. Ich bestieg den Zug nach Stuttgart und Ulm, Weiterfahrt nach München. Um halb zwölf Uhr nachts wartete ich vor dem Ulmer Bahnhof auf Sabine. Der weiße Lieferwagen von „Elle“, wie der Weinladen in der Bergerhauser Straße in Biberach nach dem Spitznamen ihres Lebensgefährten heißt, fuhr aus der Nacht heran. Ich krabbelte hinein.
- Bis abends sehr heiß. Nach 20.30 Uhr Unwetter, orkanartiger Sturm. Die Bäume vor den Fenstern verneigten sich sehr tief. Regengüsse. Sirenen hallten in der Nacht.
10.7.2002
- Bis abends sehr heiß. Nach 20.30 Uhr Unwetter, orkanartiger Sturm. Die Bäume vor den Fenstern verneigten sich sehr tief. Regengüsse. Sirenen hallten in der Nacht.
10.7.2002
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