7
Jul

7.7.2002

1964. – Ich sitze auf der Toilette der Lindelestraßenwohnung, durch das geöffnete hoch-schmale Fenster, die Juliwärme quillt herein, tönt Conny Francis‘ Schlager „Heißer Sand, und ein verlorenes Glück ....“, und ein Leben oder eine Liebe in Gefahr, oder so ähnlich singt sie weiter. (In dieser Zeit gewöhne ich mir an, auf dem Schüsselrand nicht zu sitzen, sondern in einer gleichsam arschschwebenden Hockestellung über ihm zu defäzieren; es scheint mir hygienischer zu sein. Inzwischen sitze ich wieder.) Später gehe ich aus dem Haus. Alle Gehwege, Straßen, auch die dreieckige Grünfläche mit den Linden neben dem Lindelestraßengrundstück, dort, wo die Gartenstraßen in die zum Lindele hinauf verlaufende Straße einmündet, sind mit VWs. Opels, einem Borgward, Mercedes-Benzen (wenige), NSU-Automobilen, Autos noch anderer Fabrikate zugeparkt, in den süßlichen Duft der Lindenblüten mischt sich der Benzingeruch, der den PKWs, ihren Motorhauben, als technischer Blechkörpergeruch der Wirtschaftswunderjahre entweicht. Vom „Berg“ – der Gigelberg heißt in der Woche des Schützenfestes nur „Berg“ – herüber beklagt schon wieder Conny F. ihr verlorenes Glück; ich gehe den Weg zur Gaistentalstraße hinab, befühle die Markstücke in der Hosentasche – ich habe die Uniform aus- und eine lange Hose angezogen, auch das Hemd gewechselt – die ich in Kürze auszugeben gedenke, auch die Getränke- und Essensgutscheine, die von gestern noch übrig geblieben sind. Ich überquere die Straße, betrete das Wäldchen, das als grüner Streifen die Straße bis hinunter zum Bismarckring begleitet, gehe den schmalen, in einer sanften S-Kurve gewundenen Weg zum „Berg“ hinauf, komme dort auf das Ende der Jahnstraße. Links erstreckt sich der vordere (vom Lindele aus gesehen) Teil des Gigelbergs, nun ist er mit den Buden und Großgeräten der Schausteller voll gestellt, mit den für „Schütza“ so vertrauten „Volksbelustigungen“; ein ohrenbetäubender Lärm, Mikrofonansagen, Klingeln, Schreien, Fahrgeräusche vom „Schnee-Express“ und Autoscooter-Halle, Tuten, Tröten, Menschengemurmel – eine Kakophonie des Vergnügens und des Rummels schlägt auf meine Trommelfelle. In der heißen Luft der Duft von gerösteten Mandeln und Wurstbraterei, der von einem schwachen Wind verteilt wird. Auch der Asphalt riecht ganz typisch nach Sommer. Ich tauche ein in das flirrende Gewimmel, strolche hin und her, vom vorderen Gigelberg zum hinteren, wo das breite Bierzelt steht; entlang des Weges, der zwischen diesem großen Platz (auf der anderen Seite liegt eine rote Hundert-Meter-Sprintbahn) und dem mit hohen Bäumen, deren Wipfel sich zu einem Dachgeflecht zusammenfinden, bestandenen Gelände, auf das das „Zeltlager der Schweden“ und der „Kaiserlichen“ aufgestellt ist, liegt, stehen Bratereien, Glückwurfbuden, Süßwarenstände. Ich kehre um, schlendere am Kasperle-Theater vorbei, wo eben wieder der brave schlaue Kasper mit seiner breiten Klatsche die bösen Buben haut, das jüngere Kindervolk (ich bin ja schon zwölf) kreischt begeistert auf seinen Bänken vor der Puppenspielerbude aus stimmgewaltigen Hälsen; ich gehe zum Almdudler-Stand und kaufe mit einem Gutschein eine dieser bauchigen Limonadenflaschen, aus denen mit einem Strohhalm das klebrig-süße Gesöff genuckelt wird; wandere weiter, dahin, wo zwischen Karussell und Schiffsschaukeln der Lukas gehauen wird: starke Männer, oder solche, die ihre Körperkräfte ihren Freundinnen – oder ihrem „Schützenschatz“, eine biberacherische Sonderheit des Körperkontakts – beweisen müssen, packen einen unförmigen Holzhammer zwischen die Fäuste (in die sie zuvor demonstrativ gespuckt haben), schwingen ihn über ihre Köpfe, schlagen damit auf einen Metallstumpen, der aus einer Metallfläche ragt, und auf der Anzeigentafel in Gestalt eines hutgeschmückten Mannsbilds, dem Lukas, schnellt ein Metallteil in die Höhe, und hat der, der den Lukas nun gehauen hat, gute Kraft gehabt, dann schlägt dieses Teil oben an, ein lautes „Bing!“ zeigt den höchsten Wert an. Die Umstehenden murmeln beifällig, der Schützenschatz lacht und klatscht belustigt. Mit geschwellter Brust stolziert das echte Mannsbild samt Schatz von dannen. An der Autoscooter-Bahn, in der die „Boxautos“ ihre engen Kreise ziehen, verharre ich eine Weile, dann wird mir dieser Anblick langweilig, ich sehe, auf der rechten Seite des Platzes, noch beim Fotoschießen zu; dann, es ist schlichtweg zu heiß, trolle ich mich nachhause und bin fünf Minuten später im kühlen Wohnzimmer. Meine Mutter ist irgendwo in der Stadt mit ihren Freundinnen unterwegs; es ist „Schützendienstag“. Ich lege mich auf die Coach und döse eine halbe Stunde. Zwei Stunden später muß ich für’s „Abtrommeln“ die blau-gelbe Uniform anlegen. In voller Montur gehe ich wieder über den „Berg“, wir Schützentrommler – und nun schreiben alle Sekretärinnen plötzlich, aber nicht an diesem Tag, denn sie haben alle frei, „1966“ auf die Briefbögen – und wir vom Trommlercorps der „Kleinen Schützenmusik“ im andersbunten Kostüm warten vor der Gigelberghalle, bis wir vollzählig sind und es achtzehn Uhr schlägt (und die Kanone drüben hinter dem Lager aus dem 17. Jahrhundert feuert zur Bestätigung ihre Stundenböller ab). Der Tambour reckt seinen Stab in die milde Abendluft, zeigt mit der linken Hand den Marsch an, die Pfeifer lassen ihre schrillen Töne los, wir Trommler setzen – rumms! – den ersten Schlag auf das wohlgespannte Fell der Trommel, wir marschieren trommelnd und pfeifend den „Berg“ hinunter. Andere Trommlergruppen folgen zur Stadtmitte, in dem der Zug endet. Das „Abtrommeln“ beschließt offiziell die „Haupttage“ des Schützenfestes; was folgt, dient allem Volk zu sinnfreiem Amüsement. (Und die spitzen Reste der Attribute dazu glitzern am Morgen danach in manchen Straßen und Gassen.)
- Der Himmel oft bedeckt, unschlüssig versuchte das pralle Licht dieser Sonne durch die Wolkenschicht zu dringen, meistens erfolglos. Dabei war es warm, doch ein Wind kühlte die Luft, deutlich zu spüren, wenn die Wolken dichter und grauer wurden. Am Nachmittag ein zögerndes Regentröpfchen. Einigermaßen undefinierbare Witterung.
7.7.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6711 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren