12
Jun

12.6.2002

An einem Nachmittag in den Frühjahrsmonaten von 1975 saß ich in dem Kino in der Nähe des Schloßplatzes in Stuttgart, in dem ich für gewöhnlich Filme ansah, wenn ich Lust auf Film hatte, was aber während der Stuttgarter Zeit sehr selten vorkam, und schaute Fassbinders „Faustrecht der Freiheit“ an. Als ich das Kino verließ – statt ins Seminar war ich ins Kino gegangen – trug ich im Kopf die Absicht hinaus, eine Kritik des Films zu verfassen und an die „Deutsche Volkszeitung“, DVZ, zu schicken, die trotz ihres nationalistisch klingenden Namens eine linke Wochenzeitung war, vom VVN, Verband der Verfolgten des Naziregmines, getragen. Wie ich in den Achtzigern aus einer anderen Zeitung erfuhr, es war wohl „nach 1989“, hing sie stets am Finanztropf der DKP und somit der SED. Ich hatte über Sylvia P. einen Kontakt zu dem Blatt, das die SDAJ-Gruppe Biberach seit 1972 regelmäßig bezog und das ich einmal in der Woche (als ich noch nicht in Stuttgart war) aus dem Postfach der Gruppe holte, zusammen mit anderen Sendungen, denn ich war Besitzer des Postfachschlüssels, weshalb ich fast jeden Tag zur Post an der Ulmer Tor-Straße spazierte, meistens um die Mittagszeit, um das Fach zu leeren. In den Tagen eines meiner Besuche bei den P. hatte Sylvia mich einmal in die Wohnung eines der verantwortlichen Redakteure mitgenommen. Ich schrieb die Rezension und sandte sie nach Düsseldorf, von dort erhielt ich jedoch keine Resonanz, sie druckten meine Besprechung nicht, wie ich allmählich kapierte. Bekam ich je eine Begründung? Ich kann in meinen Archivalien nichts finden, nur den Durchschlag eines Briefs an S.P., daß ich bis dato noch nichts von der Redaktion gehört hätte. (Vor einem halben Jahr, Anfang 2002, las ich in einem Artikel der „Berliner Zeitung“ über die Filmjournalisten – und Leo Kirchs ehemalige Filmeinkäufer – Ripkens und Stempel, in der deutschen Schwulenszene als Herausgeber, Juroren und Schreiber bekannt, daß sie eine Zeitlang in den Siebzigern Redakteure der DVZ gewesen seien; damals hatten mir ihre Namen allerdings noch nichts gesagt, denn vermutlich hatte ich sie gelesen; das schwule Thema dürfte also der Redaktion nicht unbekannt geblieben sein.) Zur allgemeinen Beurteilung tippe ich den Text, denn ihn habe ich in einem alten Schnellhefter entdeckt, noch einmal, siebenundzwanzig Jahre nach dem Kinobesuch und zwanzig Jahre nach Fassbinders Tod – der Regisseur hatte den Protagonisten „Franz Biberkopf“ in seinem Film gespielt – ab.
„Das tabuisierte Existenzproblem „Homosexualität“ wurde hierzulande filmisch erstmals von Martin Sperr in seinem Film „Jagdszenen aus Niederbayern“ aufgegriffen; im beginnenden Politisierungsprozeß der „Studentenbewegung“, der die Krusten der bundesrepublikanischen Gesellschaft aufbrach, konnten sogenannte Außenseiter auch auf eine stärkeres objektives Interesse an ihrer Situation hoffen. 1971 gab Rosa von Praunheim mit seinem Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, der den männlichen Homosexuellen radikal und schonungslos provozierend den Spiegel vorhielt, einen wesentlichen Anstoß zur öffentlichen Diskussion, zumal er einige Zeit darauf im Fernsehprogramm ausgestrahlt wurde. Die heftigsten Angriffe gegen Praunheim kamen – charakteristischerweise – aus der eigenen homosexuellen Subkultur: Praunheim habe, indem er homosexuelles Verhalten überspitzt habe, Vorurteile bestätigt und die entsprechenden Lebensumstände ins Lächerliche gezogen. Dennoch hatte Praunheims Absicht, die Homosexuellen zur eigenen Emanzipation aufzufordern, Erfolge aufzuweisen; in Arbeitsgruppen wurden Strategien und Aktionen diskutiert und veranstaltet, um das individuelle Triebschicksal mit all seinen Auswirkungen mit einer politisch relevanten Arbeit zu verbinden. Über die Art dieser Arbeit, in welchem Rahmen und in welchem Ausmaß Homosexuelle sich politisch engagieren, in welchen bestehenden Organisationen sie sich betätigen sollen, gibt es Auseinandersetzungen und unterschiedliche Standpunkte. Und die Mehrheit der Homosexuellen will von Politik nichts oder wenig wissen.
Faßbinders Film „Faustrecht der Freiheit“ erzählt die Geschichte von Franz Biberkopf, der, proletarischer Herkunft, als „Fox, der sprechende Kopf“ auf dem Jahrmarkt agiert, in der „Klappe“ einen gutbetuchten Antiquitätenhändler trifft und in dessen exklusiven Freundeskreis gerät. Franz spielt Lotto und hat Glück: als Halbmillionär wird er „interessant“. Er lernt Eugen kennen, dieser täuscht Liebe vor und will doch nur, wie alle anderen, sein Geld. Franz kauft eine Wohnung und überschreibt sie Eugen; er kauft üppiges Mobiliar vom Antiquitätenhändler; er zahlt die Reise nach Marokko; er gibt Eugens Vater, dessen Druckerei bankrott ist, Kredit. Franz zahlt. Er schuftet in der Druckerei und meint, damit noch gut zu verdienen. Als das Geld futsch ist, gehen ihm die Augen auf: In „seiner“ Wohnung hat sich Philipp, Eugens alter Freund, eingenistet und schlägt ihm die Tür vor der Nase zu; der Kredit ist durch Advokatentricks verloren; Franz dreht durch, wird rausgeworfen, setzt sich in den flotten Sportwagen, den er zum Schleuderpreis verkaufen muß. Abends im Schwulenlokal bekommt er den letzten Frustrationsschock; er besäuft sich, schluckt Valium, und am Morgen liegt er im U-Bahn-Terminal, und zwei Bübchen fleddern sein letztes Bares. Der Antiquitätenhändler und Franz‘ einstiger Freund vom Jahrmarkt kommen vorbei, lassen ihn liegen und unterhalten sich, wie man die von ihm gekauften Möbel am unauffälligsten über die Grenze schiebt.
In welcher Weise wird Faßbinders Film der Situation der Homosexuellen gerecht? Die Story ist – wie ja in allen Faßbinder-Filmen – nicht ohne Melodramatik; in diesem Fall könnte sie jedoch eine dem Thema angepaßte adäquate Vermittlungsfunktion übernehmen, wenn sie nicht einmal mehr auf bloß subjektivistischer Basis errichtet wäre: Melodramatik, angewandt auf die Schilderungen homosexueller Lebensweise, könnte die Scheinwelten, die Sentimentalitäten und unechten Verhaltensweisen, denen Homosexuelle ausgesetzt sind – und die sie reproduzieren – entlarven. Andererseits hat Faßbinder die „Kultur“ der (kleinbürgerlich strukturierten) homosexuellen Subkultur getroffen: er zeigt den zwanghaften Kulturkonsum, der wie überhaupt alles „Stilvolle“ zum Fetisch stilisiert ist, er zeigt Abhängigkeits- und Konkurrenzverhältnisse innerhalb der Subkultur.
Ein Ausbeutungsverhältnis ist auch die Beziehung zwischen Franz und Eugen. Franz, der Eugen auf die naive Weise liebt wie jener Franz Biberkopf im Döblin’schen „[Berlin,] Alexanderplatz“ [liebt] – woher Faßbinder auch Motivation mitverbraucht hat – , glaubt wirklich an die Große Liebe und ist – wie der erste Franz B. – auch bereit, dafür zu zahlen. Und er bezahlt und geht drauf wie der erste. Das „Faustrecht der Freiheit“ also als die Freiheit dessen, der besser durchblickt und skrupelloser ist als die anderen? Das wäre nicht sehr originell, wären es nicht eben Homosexuelle, die so handeln. Denn das zeigt, daß auch in der homosexuellen Subkultur die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse wirksam sind, ja sie ins Extrem ausbilden. Ein Proletarier und ein erklärter Kleinbürger als (scheinbares) Freundespaar: das führt vor Augen die Traumwelt des schönen Scheins, die vorzugaukeln mancher Homosexueller sich bemüht; eine Traumwelt, die illusorisch ist und daß scheitert, wer sich ihr ergibt. Franz‘ Geschichte zeigt, wenn auch nicht mit Absicht, daß es Klassenverhältnisse sind, in denen Homosexuelle leben und von denen sie bestimmt werden; die Unterdrückung der Homosexuellen, daraus resultierend ihre Gettosituation und ihre persönlichen Verhaltensweisen sind konkrete Erscheinungen von Klassenverhältnissen, und diese haben Wirksamkeit auch dort, wo Franz meint, eine Große Gemeinschaft vorzufinden. Als er merkt, von seinesgleichen betrogen und brutal benutzt worden zu sein, selbst hier keine Solidarität zu erhalten, packt er’s nicht mehr.
Dieser Zusammenhang von gesellschaftlich bedingter „Normalität“ und individuellem „Außenseitertum“ wird von Faßbinder aber nicht hinterfragt. Die Zwänge, denen Homosexuelle unterworfen sind, erscheinen als nicht zu erklärende Phänomene, und so werden auch die Erwartungen des Filmkonsumenten wohl kaum weiterentwickelt, eher bestätigt. Was man vermutet, aber selten so richtig zu sehen bekommt – hier sieht man’s. Homosexuelle Lebensweise, über der der Ruch der Anstößigkeit und der moralischen wie sittlichen Verkommenheit liegt, wird hier ehrlich gezeigt; aber ob das genügt, aufklärende Wirkungen zu zeitigen?
Das Resümme? Eine Schilderung homosexueller Lebensumstände in idealisierten Formeln; und dann eventuell noch ein – glücklicherweise in „selbstverständlichen“ Bildern – Beitrag zur „Toleranz“. Das mag sehr vielen Homosexuellen recht sein; jene aber, die etwas umfassender denken, wollen nicht toleriert, sie wollen akzeptiert werden. Die um die persönliche wie gesellschaftliche Emanzipation der Homosexuellen kämpfende Schwulenbewegung aber, die mit diesem Ziel vor Augen sich formiert, hat einen Weg vor sich, dessen Barrikaden noch für ungewisse Zeit von den Bannerträgern der Angst, der Dummheit und Ignoranz gehalten werden.
KLAUS DIEDRICH“
Nun ja ... Und warum schrieb ich Fassbinders Namen permanent falsch ?
- Vormittags sonnig. Ab Mittag grau, aber der Tag blieb eigentümlich warm. Vor und nach 20 Uhr streifte über die ganze Stadt ein kräftiger Regen.
12.6.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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