11
Jun

11.6.2002

Vor dem versammelten Saal, vorn zwischen der Bildwandbühne und der ersten Stuhlreihe – Sessel konnten diese ungepolsterten Sitzmöglichkeiten in den drei ersten Reihen nicht genannt werden – stellten sich der Kinobetreiber und „Kurti“ Raab auf, der Hausherr begrüßte die Gekommenen, die in Erwartung Rainer Werner Fassbinders Gekommenen, und bedauerte, daß Rainer Werner Fassbinder leider nicht kommen könne, da er mit dem Auto, in dem er auf der Autobahn unterwegs gewesen sei, einen Unfall gehabt habe (wer wollte das glauben?) und nach München zurück gekehrt sei. Er bitte um Verständnis – in verschiedenen Sesselreihen grummelte Unmut auf – und hieße nun, statt des Regisseurs, der seine Absage wirklich bedauere, den bekannten Fassbinder-Schauspieler Kurt Raab willkommen, einen der engsten Vertrauten des Filmemachers, der eben dessen Bedauern, hier in Biberach nicht vor das Publikum treten zu können, überbringe; „Kurt Raab!“ Enttäuschter Applaus schwoll auf und ebbte ab. „Doch zunächst der Film: Satansbraten, von Rainer Werner Fassbinder!“ Es mag sein, daß Raab noch etwas sagte, bevor die beiden nach links wieder abgingen. Rasch senkte sich die Kinodunkelheit über die Zuschauer, der erste Vorhang teilte sich in der Mitte und seine beiden sacht dem Zug des Öffnungsmechanismus nachschleifenden Teile glitten nach links und nach rechts auseinander in die Ecken, die des zweiten ebenso, und weil der Vorstellungsbeginn in der Hoffnung, der Meister möge sich vielleicht doch noch bald zeigen, um zwanzig Minuten oder länger hinaus geschoben worden war, wurden weder Werbefilme noch Trailer vorab auf die Bildwand, die nun sichtbar wurde, projiziert, sondern die ersten vierundzwanzig Bilder (pro Sekunde) von „Satansbraten“. Münchner Dichter, exaltiert und priesterhaft, schreibt ein Gedicht, findet es genial und muß sich darüber aufklären lassen, daß dieses Gedicht wortwörtlich schon Stefan George geschrieben habe, worauf der Dichter zu verzweifeln sich anstrengt und auch sonst allerhand Schelmereien geschehen, in deren Verlauf Volker Spengler, der einen Debilen gibt, ausgiebig Gelegenheit erhält, vom „Fliegenficken“ zu faseln; und wer mit dieser Synopsis (Satire sollte der Film sein) nicht einverstanden ist oder auch wissen möchte, der kann sich das Werk ja ansehen; gestern übrigens hat der Sender „Vox“ es ausgestrahlt, ich habe nicht ferngesehen, einmal hatte mir gereicht. Die Vorhänge schlossen sich, das Licht glomm fade auf, Kinobesitzer und Darsteller traten wieder vor die Sesselreihen. Nun möge das Publikum Kurt Raab zum Film befragen. Schweigen im Saale, die etwas rohe Kost mußte noch verdaut werden, also machte Raab einen Anfang und plauderte drauflos. An „Diskussion“ war dann nicht viel, der Abend ging in die one man show des Schauspielers über, der sich nicht gütlich genug daran tun konnte, in seinen sprudelnden Ausführungen das Fliegenficken wortreich zu würdigen, es war der Fliegenficken-Abend, und eigentlich nur wegen des Raab’schen Ergötzens, das Fliegenficken so ungestört ausgiebig erörtern zu können, blieb er mir im Gedächtnis. „Und was meinen Sie zum Fliegenficken?“, rief er über die von dieser Vorstellung durchaus erheiterten Kinogeher mir zu, in meine hinterste Ecke, offensichtlich meinte er mich; oder wie? Ja, aus irgendeinem Grund – hatte er mich während der kleinen Szene vor der Kassentür doch bemerkt, oder warum fiel ich ihm, unter all diesen Leuten, auf? – sah er mich direkt über die Köpfe an. Ich konnte nur müde grinsen. Und weiter ging’s da vorn mit der Suada. Geduldig lächelnd stand der Kinomann, der es aufgegeben hatte, eine ernsthafte Diskussion über filmkünstlerische Aspekte zu erwarten, daneben. Schließlich fühlte das publico sich in ausreichendem Maß unterhalten, Zuschauer erhoben sich und gingen, der Höhepunkt im Flickenficken war überschritten, und Raabs aufgedrehte Selbstdarstellung verlor an Schwung. Mit einem Dank für’s Kommen wurde der Abend offizielle beendet. Ich ging. Ein paar Tage danach berichtete mir ein Sechzehnjähriger, auf den ich schon im Jahr zuvor beide Augen geworfen hatte, daß Raab – der in Fassbinders „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ den Jungenliebhaber und -mörder Hamann spielte – sich ihm auf der anschließenden Party genähert habe, die im Haus des Chefarztes N. in der Alpenstraße auf dem Lindele – Gartenstraße, Probststraße, Alpenstrasse, in dieser ansteigenden Reihenfolge liefen diese Straßen über den Hügelabhang – stattgefunden habe; aber es war freilich zu nichts Unnatürlichem gekommen.
-Sonne, Regen, wobei die Sonne letztlich siegte.

11.6.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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