9
Jun

9.6.2002

Im Juni 1974 ging ich in der Karpfengasse 24 schon ein und aus. Elian F.-U. als Kopf der Wohngemeinschaft jener Tage bewohnte das große, das größte Zimmer des Hauses, das, dessen beide Fenster zur Gasse hinaus gingen und von dem aus, saß ich in ihm, die Blicke auf die umbra-schmutzige Wand der schlecht beleumundeten Kneipe „Bierhalle“ aufstießen; jenes Zimmer, das drei Jahre später im Juni ich bewohnen sollte, aber das wußte ich nicht, als ich bei Elian hockte, am frühen oder späten Abend, ihren guten Wein trank, rauchte, allein mit ihr plaudernd oder in einer der geselligen Runden, zu deren variationsreicher Anzahl und Zusammensetzung wir uns nach oder vor „Strauß“-Besuchen zusammenfanden, in denen uns zu Politik, Literatur, Film, Musik immer etwas einfiel, was gar nicht so dumm war. Wer war dabei? Hans-J. F., ihr Angetrauter, Referendar damals für Deutsch und nochwas, der jedoch in einer anderen Stadt lehrte und gelegentlich an Wochenenden hinzukam, obwohl beide de facto getrennt lebten und einander, ganz im Stil der Zeit, der Besitzverhältnisse auch in erotischen Dingen verpönte, großzügig Freiheiten ließen. Er war ziemlich hager, leptosomer Intellektueller, mit halblangen schwarzen Haaren, einem schmalen Gesicht mit einer schlichten Brille darin, ein ironischer, aber gleichzeitig penibler Charakter, analytisch geschult, der mit eher leiser Stimme prägnante Kommentare und Ratschläge zu allem geben konnte, was wichtig erschien, und davon gab es ja eine Menge. Ich erlebte ihn aber auch in seiner verhaltenen Wut, die freilich nie mir galt. Herbert K., der im Juni `74 noch nicht in der „Karga“ wohnte, Bernd H., der in Tübingen studierte, Leute aus dem Haus, G. vielleicht einmal, Kuppinger (arbeitete in Biberach in einer bekannten pharmazeutischen Firma), andere, die in meinen Erinnerungen keinen dauerhaften Platz gefunden haben. Junge Männer und Frauen; für die jungen Frauen, Mädchen darunter, war Elian das Vorbild der emanzipierten Frau, die ihr Leben zu leben verstand und wenige Rücksichten auf Konventionen nahm. Wir zelebrierten ein wenig unsere kleinen Auftritte, wenn wir, beide ganz in Schwarz, den „Strauß“ betraten, wobei doch viele von jenen, die sich zur „Szene“ rechneten, ahnten, daß ihr Begleiter höchstwahrscheinlich schwul war, wenn sie es nicht wußten. Zigarrerauchend – mal hatte sie welche dabei, mal ich – saßen wir im „Strauß“ und tranken Rotwein. Sie hatte eine kraftvolle und optimistische, auch kompromißlose Art. Wir kannten uns seit dem halben Jahr, das dem Republikanischen Club 1971 beschieden gewesen war. Nur selten verursachte ich Situationen, in denen sie sich vielleicht wünschte, mich nicht zu kennen, wenn ich über meinen Innendruck die Kontrolle verlor und sie miterleben mußte, wie ich mich aufführte. Ich trank zu viel. 1974 oder 1975 beherbergte sie in einem Terrarium, das an der Wand ihres Zimmers stand, eine schwarze Giftschlange, die eines Abends aus ihrem karg möblierten Glasgehäuse entwichen war und sich unter den wuchtigen abgebeizten Bauernschrank – Schmuckstück des Raums und ein Muß für jemand, der auf sich hielt – verkrochen hatte. Als ich das Zimmer betrat, stocherte Elian mit einem dünnen langen Stecken unter dem Möbel herum, rief mehrmals in zärtlichem Ton „Ja Schnuffele komm, komm vor“, während ich vorsichtig am Rand des Raumes unmittelbar hinter der Türschwelle den Schritt verhielt. „Die ist mir raus, so ein Ärger!“, rief E. mir zu, sie stocherte, lockte das Haustier, das wollte sich nicht zeigen. Herbert kam – denn wir waren miteinander verabredet – eilenden Schritts die Treppe herauf und den Gang entlang. „Sie sucht die Schlange“, sagte ich ihm. Er lachte. Ich dachte an das Antidot, das sich just im Schrank, unter dem das Natterngezücht vermutet wurde, befand. Ich warf schnell sondierende Blicke durch den Raum. Herbert äußerte die Idee, das arme Schnuffele zu zweit zu bedrängen und zu veranlassen, sich zu zeigen, eilte davon, kam wieder mit einem Metall- oder Holzgegenstand zurück und assistierte Elian furchtlos. Sie stießen und stocherten von zwei Seiten. Und die nicht sehr lange Schlange zischelte elegant und schwarz tatsächlich hervor, wurde, ehe sie über diese Störung so richtig giftig werden konnte, von Elian mit einem bewunderungswürdigen blitzschnellen Griff hinter dem glänzenden platten Köpfchen gepackt, sie wand sie, schlängelte, Herbert hob die Platte vom Terrarium, Schnuffele wurde hineingeworfen, die Platte hurtig auf die vier Glaswände gelegt, das kleine Schnuffele war wieder zuhause. Wir gingen in den „Strauß“.
- Kühl, grau, kein Regen.
9.6.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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