6
Jun

6.6.2002

Während meines Aufenthalts in der Parteischule trat der Bundeskanzler Brandt am 6. Mai 1974 zurück. Die sozialliberale Koalition hatte Ärger mit den Gewerkschaften IG Metall und ÖTV und den Fluglotsen bekommen, die, teils in „wilden Streiks“, Lohnausgleich für die hohe Inflationsrate haben wollten. Die Staatskassen waren in keinem guten Zustand (aber wann sind sie das?), die Gewerkschaften setzten sich durch, das beschädigte die Standfestigkeit der Regierung. Dann wurde – Knalleffekt!– Guillaume, Persönlicher Referent des Kanzlers, als Major des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und also Spion enttarnt. Herbert Wehner, der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, hatte an Brandts Stuhl schon davor gesägt. Sein Favorit für eine zweite SPD-Kanzlerschaft war Helmut Schmidt. Brandt, der Schwierigkeiten und Anschuldigungen müde, gab auf, Wehner hievte Schmidt in den Kanzlersessel. „Das Großkapital kann Brandt, der sich gegen die berechtigten Forderungen der arbeitenden Bevölkerung nicht wehren konnte, nicht mehr brauchen“, wurde in dem verbunkerten Gebäude in Essen analysiert, „es muß ein Kanzler her, der härter ist und durchgreifen kann, und daß Schmidt-Schnauze das kann, das wissen die Herrschaften. Das, und nicht der Spion, ist der Grund für Brandts Sturz.“
Das war die marxistisch-geschichtsmaterialistische Antwort auf die Fragen, die in jenen Tagen mit Druckerschwärze gestellt wurden; etwas Wahrheit hing schon dran. Solch eine Einschätzung war nicht unspannend; mir gefiel der tiefer sehende Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Hintergründe, der sich nicht von „persönlicher Tragik“ und ähnlichem Schmus beirren ließ. Am letzten Tag meiner Parteischulung griff ich meine Reisetasche, sagte, daß ich viel nach Biberach und in den Kreisvorstand mitnähme, bedankte mich ganz allgemein und schritt wehenden weißen Mantels zum Hauptbahnhof und fuhr nach Düsseldorf zu den P.; und das war ein ganz wesentlicher Grund für die Reise ins Ruhrgebiet gewesen: wieder in Düsseldorf, einer Großstadt, die mir behagte, sein zu können, und sei es nur für die Stunden von zwei Tagen.
Bis über Mittag schwül-warm, dann machten sich in allen Himmelsrichtungen dunkel angefärbte Wolken breit, die Himmelsfronten verdüsterten sich rasch, und ohne Gewitter begann Regen zu tröpfeln, der innehielt, stärker und anhaltender, abends, noch einmal fiel.
6.6.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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