4.6.2002
Zum Vergnügen und um eine unruhige Anspannung zu mildern, und weil das Wetter heute in Berlin auch so hochsommerlich angenehm gewesen ist und meinen Wohnraum Verschattung und unverhältnismäßige Kühle zu einem Aufenthaltsort der fragwürdigen Art werden ließen, bin ich, wie ich es manchmal tue, wenn ich eigentlich aus meinem auch in Berlin zu engen Leben ausbrechen oder wenigstens es mit Bildern vom Tage und Impressionen von noch nicht begangenen Straßen, Einkaufscentern – „Schönhauser-Allee-Arkaden“, „Gesundbrunnen-Center“, „Spandau-Arcaden“, „Forum Neukölln“ ... – , Plätzen, Stadträumen, privaten und noch öffentlichen, ausweiten möchte, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln herum gefahren, zuerst von der Straßenbahnhaltestelle Veteranenstraße zur Kreuzung der Invalidenstraße mit der Chausseestraße, wo ich, weil die Tram wegen Straßenbauarbeiten auf der Chausseestraße Richtung Friedrichstraße bis zum August nicht weiterfahren wird, in der U-Bahn-Station Zinnowitzer Straße in die U 6 eingestiegen bin, die ich am S-, U- und Fernbahnhof Friedrichstraße verlassen habe, um, mich dem großstädtischen Bewegungsfluß einfach etwas träge überlassend, mit der S-Bahn 5 nach Spandau zu fahren, nur halb sinnierend die Stadtlandschaft entlang der mir schon bekannten Strecke betrachtend; und in diesem Zustand zwischen äußerer und innerer Welt sanft schwingend, ist mir in den Sinn geschwebt: „Die proustische Erinnerung, nicht die herbei gezwungene ...“ Als der S-Bahn-Zug eine halbe Minute danach an der Station Pichelsberg gehalten hat, ist mein Blick auf das Stationsschild auf dem Bahnhofsplafond nur zufällig gefallen, und auf das Wort „Waldbühne“ unter dem Stationsnamen. Unwillentlich, unwillkürlich hat sich die Erinnerung an den Besuch dieses berlinischen Amphitheaters, seit Jahrzehnten Wirkungsstätte des internationalen Pop und Rock, umgeben vom waldigen Grün, im Jahr 1963 vor mir aufgebaut, als meine Mutter und ich dort, weit oben auf den Sitzstufen, einer Rede des Regierenden Bürgermeisters von West-Berlin, Willy Brandt, lauschten. Von was Brandt redete, weiß ich nicht, von der besonderen Aufgabe Westberlins als Symbol des Freien Westens nach der Teilung der Stadt durch die Mauer zwei Jahre zuvor? Denn es stellt sich mir doch als sehr wahrscheinlich dar, daß wir im August, und nicht im Juli, schon gar nicht im September, sowohl in Ost- wie Westberlin waren, und eben wahrscheinlich auch am 13. August; und meine Mutter war interessiert daran, den berühmten „Regierenden“ einmal „live“, wiewohl sie diesen Anglizismus nie benützt hätte, in einem Auftritt zu einem Thema, das sie sehr anging, zu erleben. Der S-Bahn-Zug ist weitergerattert und ich in ihm mit einer anderen Erinnerung an das Berlin im Jahr 1963: wir gingen auch durch Spandau, und war der Grund nicht der, daß meine Mutter jemanden suchte, der dort wohnte? Aber wir gingen nur herum und waren in Spandau in keiner Wohnung. Ich weiß aber, daß wir dann nach einiger Zeit umkehrten; zur S-Bahn-Station? Wie kamen wir zurück in die inneren Bereiche der Stadt? Gingen wir nicht auch in der Gegend des hohen Gebäudes des Senders Freies Berlin herum? Solche Erinnerungen sind wie die Bilderfolgen eines Filmstreifens, der während seines Durchlaufs in den schlecht gewarteten Filmprojektoren in Vorführräumen zweitklassiger Kinos, in denen unachtsame und gleichgültige Filmvorführer hausen, diverse Unfälle erleidet, operiert werden muß und dem nach dem Eingriff, mit dem er zusammen geflickt wurde, kleinere und größere Stücke seines Inhalts fehlen, was Verstümmelungen der Filmhandlung hervorruft, wenn man den Film beim nächsten Mal ablaufen läßt. Übrigens bin ich vor zwei Tagen, am Sonntag, zum Treseburger Ufer in Neukölln-Britz gefahren. Ich schrieb über einem anderen Datum, ich habe 1963 nachts am Ufer des Kanals gestanden, um die im Norden sich aufwölbende Halbkugel aus künstlichem Stadtlicht zu beobachten. Ich habe am Sonntag festgestellt, daß das Ufer, durch die Strasse von den mehrstöckigen Häusern getrennt, stark von Gesträuch bewachsen ist und kaum die Möglichkeit bietet, direkt vom Ufer aus, das auch gar nicht fest eingefaßt ist, die Böschung keine Betonböschung, wie ich mir immer einbildete, hat, sondern nur eine Erdböschung, auch sie bewachsen, ist. Aber ich hatte doch immer das Bild einer festen Betondecke und auch ein Geländer vor Augen? Ich habe das Haus Treseburger Ufer 44, 44 a ..., fotografiert und bin mir nicht sicher gewesen, daß ich in diesem Haus, im zweiten oder dritten Stock, übernachtete, denn in der Erinnerung stand es breiter, in dunklerer Farbe. Die vielen Satellitenschüsselantennen auf den Balkonen mit den bunten gewellten Kunststoffabtrennungen zwischen jedem einzelnen, wie sie in den Sechzigern sehr wohl in Mode waren, und auch sie kommen in den 1963-Neuronenbildern nicht vor, haben mich zusätzlich irritiert. Auch sieht das Haus ziemlich vernachlässigt aus. Doch in 39 Jahren schält die unbarmherzige Zeit manch hübsche Fassade ab; Risse, Flecken, Schäden verunzieren den einst netten Verputz. Nachdem ich festgestellt habe, daß die Straße gar nicht so viele Häuser, die sich für meine kritische Betrachtung, die mit meiner Erinnerung besser übereinstimmen würde, zur Verfügung stellen könnten, hat, daß nach dem Haus, das nach dem mit den Nummern 44 , 44 a ... steht, Laubengärten und ein Waldstück die Stadtszenerie nördlich des Teltow-Kanals bilden, die Straße Treseburger Ufer also nicht sehr lang ist, die anderen Häuser auch aus diesem Grund noch einmal ausführlich eingeschätzt habe, ob nicht doch eines von ihnen das von mir gesuchte sein möchte, bin ich zu dem Entschluß gekommen, daß das beschriebene Haus doch das meines Aufenthalts war, denn der Eingang liegt von Westen her, und ich habe den Gang vom Auto zum Haus hin im Gedächtnis, der zur Westseite eines Hauses führte. (Solche Einzelheiten räumlicher Art konnte ich mir in diesen Jungenjahren so gut merken, daß meine Mutter immer ganz erstaunt war, wenn ich in einer Stadt, durch die wir nur einmal gegangen waren, beim zweiten Durchqueren den sicheren Führer machte, der uns ohne Umschweife zum Ziel brachte.) Als ich zurück zur Bushaltestelle gegangen bin – durch das dichte Zweig- und Laubwerk der breiten Wipfel links und rechts der Straße Treseburger Ufer, das sich zwar in den Jahrzehnten ausgebreitet haben mochte, aber bestimmt, denn die Bäume dort sind groß, auch damals keinen guten Ausblick über die Dächer zuließ, sprenkelte das Sonnenlicht – und die Wilhelm Borgmann-Brücke betreten habe, ist mir das Brückengeländer aufgefallen. Es konnte mit dem in meinem innnerlich aufbewahrten Bild übereinstimmen! Auch die Blickrichtung, nach Norden frei über die Tempelhofer Straße, stimmte. Die betonierte Fläche oder Schicht von 1963 war der Straßenbelag der Brücke. Hier stand ich in jener Nacht und sah die Lichterhebung.
- Hochsommerlich warm. Überall trieben große weißgraue Samenflocken durch die Stadt.
4.6.2002
- Hochsommerlich warm. Überall trieben große weißgraue Samenflocken durch die Stadt.
4.6.2002
04.06.