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Jun

3.6.2002

Im Frühjahr 1974 bis in den Sommer des Juli hinein stand in einem der Büros des zweiflügeligen hellbraunen und mehrstöckigen Gebäudes der lokalen Zweigstelle des Stromunternehmens „Energie-Versorgung Schwaben“, unter der Kurzbezeichnung „EVS“ in Stadt und Land bekannt, ein Holzstuhl an der Längsseite eines kleinen Schreibtischs, der seinerseits an die beiden Breitseiten zweier ausladender Schreibtische gerückt war, auf den ich mich nur wenige Minuten nach acht Uhr, oder auch einmal oder ein par Mal pünktlich acht Uhr, was am Aufdruck, den die Stechuhr auf meine Mitarbeiterkarte zuvor im Gang mit einem klackenden, irgendwie zupackenden kurzen Geräusch, das auch sehr metallisch klang, knallte, ersichtlich war, setzte, um mit der Auswertung einer nicht geringen Anzahl von Meßkarten von zahlreichen Orten im Verbreitungsgebiet des Stroms dieser großen Firma, die dort aus mir unbekannten Meßvorrichtungen irgendwelcher Stationen oder von wo auch immer regelmäßig entnommen wurden und dann zu mir auf den Schreibtisch gelangten, weiterzubearbeiten. Die Büroeinrichtung war klobig und nicht mehr ganz neu, zwei Fenster mit Flügelscheiben erlaubten dem oft hellen Sonnenlicht, das in jenen Monaten erfreulich über die oberschwäbische Stadt leuchtete, in schrägen und geraden Streifen über die Schreibtische hin zur Wand und zur Tür zu fallen, die ich, wenn ich auf diesem Stuhl saß und in ruhiger Gleichmäßigkeit die Daten von den Meßblättern auf Papierbögen mit Rubriken übertrug, im Rücken hatte; das war mir in den ersten Tagen meiner Werkstudent-Arbeit etwas gewohnheitsbedürftig gewesen, aber dann war ich nicht mehr beunruhigt und ich fühlte mich nicht mehr so stark gestört, wenn ich hörte, wie hinter mir die Tür geöffnet wurde und ich die Anwesenheit einer Person spürte und meistens auch sofort deren Stimme hörte, die ich nicht sogleich sehen und einschätzen konnte. Alter Soldat hat immer gern den Rücken frei. Auch diesen Job hatte, wie hätte es anders sein können, meine Mutter mir besorgt. Ihre Bekanntschaften und Verbindungen waren in jener Zeit, wie ich wieder einmal Anlaß gehabt hatte festzustellen, mit einiger Verwunderung, wie ich mir eingestanden hatte, doch vielfältig gewesen, oder auch nicht, denn mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit war auch der Abteilungsleiter und Prokurist gar – sofern ich ihn nicht nach so langer Zeit mit einer Beförderung bedenke, und wenn doch, dann geschieht es nun zu seinem dankbaren Andenken – Herr S., ein fast kleiner Mann mit dem zurückgekämmten und zwar gelichteten, aber noch deutlich sichtbar einstmals schwarzen Haar und dem energisch-feinen Gesicht eines aktiven Sechzigjährigen, Mitglied der Christlich-Demokratischen Union. (Diesen von mir nicht unbedingt geschätzten Parteiennamen einmal auszuschreiben statt das Kürzel „CDU“ wie geläufig hinzuwischen ist doch etwas seltsam und soll nicht als besondere Hervorhebung besonderer Verdienste verstanden werden.) Meine Mutter, um das klarzustellen, war niemals CDU-Mitglied. Herr S. verhalf mir ohne viel Trara und ohne Anstoß an meiner „Matte“ zu nehmen, was keineswegs selbstverständlich war in jener Zeit in Biberach in einem ausgesprochen konservativen Unternehmen, über einige Monate hinweg zu Geld, natürlich im bescheidenen Rahmen eines Werkstudentvertrages, aber für meine Verhältnisse ganz ordentlich. Ich saß von acht bis zwölf – „Mahlzeit!“, „Mahlzeit!“ kam es durch den langen Gang aus allen Türen, wenn ich zur Ein- und Ausgangstür des Bürohauses ging – und von halb zwei Uhr nachmittags bis um 17 Uhr etwa auf meinem Bürostuhl, still und unauffällig, während die beiden Angestellten an ihren Schreibtischen ihre Schreibarbeiten und Telefonate, Flachsereien und Kollegenschelte bewerkstelligten und nur ab und zu, und ich vermißte eine größere Zuwendung gar nicht, das Wort an mich richteten; naturgemäß zu Beginn meiner Tätigkeit, um die Neugierde, die auch meine Studienabsichten einschloß, zufrieden zu stellen. Der ältere der beiden Herren in Anzügen war mir aufgrund nachbarschaftlicher Begegnungen ohne Wortwechsel seit Jahren ein vertrauter Anblick, wohnte Herr H. – er trug den Namen, den ich ab und zu auf Postsendungen nach Wuppertal schrieb – doch am unteren Ende der Lindelestraße auf der anderen Straßenseite. Er hatte Falten im Gesicht, die ihn ein wenig besorgt aussehen ließen, war aber ein umgänglicher Mensch, der gern einen Spruch oder einen Witz rausließ, der nicht allzu unerträglich war. Der andere, etwas über dreißig, wie ich als stiller Teilhaber ihrer kollegialen Gespräche mithörte, war der flotte Typ, mit einem glatten, etwas spitzen Gesicht, intelligent und insgesamt von sympathischem, wenn auch Angestelltenäußerem. Er verfügte über eine rasche und ironische Zunge; das ist ja etwas, das ich immer schätzen kann. Manchmal waren beide abwesend; im Außendienst unterwegs oder auf andere Weisen irgendwo ihrem Beschäftigungsverhältnis nachgehend oder nachfahrend, oder im Urlaub. Ich saß und wertete aus, von montags bis freitags um vierzehn Uhr, das waren meine Arbeitsmonate bei der EVS. Zwei Stehempfänge, zu denen für die Abteilung wichtige Ereignisse die Anläße gaben, stand ich durch, mit einem Glas, in dem der Sekt die Zimmertemperatur des Vorraums dieses Chefs annahm, in der Hand, zwischen den Damen und Herren der Abteilung. „So geht es also in Büros zu“, dachte ich, belustigt, leise erschauernd. Wieder eine Bestätigung für mich, nie in der Zukunft, welche sie auch sein mochte, in Büros zu sitzen; auch Sekt, selbst stets gut gekühlter, war gar kein Anreiz dafür. Ich bekam Lohnerhöhung, Herr S. schätzte die Korrektheit und Schnelligkeit meiner Arbeit. Ich war überrascht und angetan. (Auch das ein Wort, das es damals noch nicht gab, aber ich schreibe es nun eben aus dem Heute.) Wurde 1974 nicht auch, wie heute, wie gestern, wie morgen im Juni 2002, eine Fußballweltmeisterschaft ausgetragen? Mich ging’s ja nichts an, aber mir ist doch, als sei dem so gewesen. Wenn ich mich nicht täusche, beendete ich Mitte Juli diesen Job, und so hatte ich also auch in der „Schützenwoche“, eine in Biberach an der Riß besondere, ja ins Mythische hineinreichende Woche, gearbeitet, ausgenommen am „Schützendienstag“ freilich, dem obersten Biberacher Feiertag, an dem alle Läden und Firmen ihre Türen und Tore schließen. Oder schlossen?
- Ruhiger Sommertag mit Wolkenzug.
3.6.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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