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Jun

2.6.2002

Und doch voran wieder (oder zurück) ins Jahr `74, denn aus diesem Jahr weht mich ein gutes Gefühl an, ein leichter Wind aus Partikeln voller Sympathie und lichter Zeit; denn es lag ja in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, die für mich die schönere Hälfte dieses Dezenniums war, und bildete mit seinem Nachfolgejahr, 1975, den ansteigenden Höhepunkt dieser Jahrzehnthälfte; und 1976, um auch die Grundeigenschaft dieses Jahrs – jedes Jahr der Siebzigerdekade besitzt für mich, aus der Entfernung betrachtet, seit längerem schon seine sehr eigene Prägnanz und Spezifität – voraus blickend anzudeuten, kulminierten meine siebziger Jahre und fielen schnell, ab dem Herbst, in einer langen Kurve nach unten ab, bis zum Ende jener zehn Jahre, als ich in einer verdüsterten Zeit lebte.
Man spricht heute wieder vom Lebensgefühl, das so oder so sei und das da und dort so und so gewesen sei, im Urlaub oder sonstwo, das dem einen oder anderen möglicherweise ein bißchen altbacken – auch kein knuspriger Neologismus – auf der Zunge liegt, und das ist auch für mich gar nicht der Begriff, der nach Siebzigerjahre riecht und schmeckt, in denen er mir nie in den Gedanken und nie in den Gefühlen war, ich kannte ihn nicht, kann mich nicht daran erinnern, daß ich ihn jemals gelesen hätte, und wenn er benutzt worden war, dann nicht in meinem „Lebenskreis“. Ich nehme mal an: Was die Rock- und Popmusiker an Klängen und Sound über den Grossen Teich und den Kanal gebracht und aus ihren weiten Ärmeln und ihren Gitarren geschüttelt hatten, bewirkte, durch Schütteln und Rütteln nicht nur der einzelnen Körper, daß bestimmte Verhältnisse und die herkömmliche Sprache eine andere Konsistenz und veränderte Oberflächen bekommen hatten, und spätestens dadurch war auch das Wort Lebensgefühl zum feeling geworden. Ich hatte `74 ein geiles feeling, könnte ich also schreiben, woran mich nur stören würde, daß „geil“ – andersrum, sozusagen, gedacht – noch nicht das Allerweltsadjektiv war, das es heute ist und noch eher seine herkömmliche Bedeutung im Vorspiel rinnender und spritzender Körperflüssigkeiten besaß. (Ende der achtziger Jahre hörte ich im „Sternchen“-Kino eine der jungen Damen hinter dem Tresen zu einer anderen vom Betreiber einer unscheinbaren Szenekneipe erzählen: „Dann sagte der: ‚Jetzt geh ich in meine kleine Küche und mach mir einen geilen Fisch.‘ Für den war alles geil.“ Es amüsierte mich, auch, weil ich die Kritik heraushörte, daß der verschleißende Gebrauch dieses lustbetonenden Wörtchens sie irritierte.) In diesen Jahren, ein Vierteljahrhundert später, scheint mir nun das feeling ein fremd gewordener Ausdruck geworden zu sein, auch mir selbst, und wenn ich nun das durch eine der geheimnisvollen Einwirkungen der Zeitläufte aufgefrischt riechende Lebensgefühl doch benutze, aus den Zusammenhängen von heute auf jene reflektierend, dann deshalb, weil „Lebensgefühl“ im neuesten Befindlichkeitsdenken ein (wieder?) verständliches Hauptwort ist, aber verständlich eher in der Weise der Redensart, die eben dann verwendet wird, wenn dem Redenden etwas Gedachtes plus Empfundenes doch nicht so präzis ist, daß er diese Mischung mit genau umzirkelten Wörtern und Sätzen erklären könnte und sie so ein wenig trübe bleibt. Aber wahrscheinlich ist dieses Substantiv gerade aufgrund solcher Unzulänglichkeiten dafür geeignet, die prinzipiell ungenaue und nicht in die passenden Worte zu fassende Gemütsbewegung „Gefühl“ mit dem Leben, dessen Undurchsichtigkeiten und Verzeichnungen paradoxerweise jedem klar sind, eben in den Augenblicken, in denen er sie nicht durchschaut, in eine gebrauchsgegenständliche Facon einzubinden, die etwas Flüchtiges in einer scheinbar festen Form zeigt. Wenn ich aber doch, etwas zögernd, dieses Wort auf mein Zustandsgefühl der ersten Hälfte der siebziger Jahre anwende, dann paßt das „geil“ wieder nicht; oder was meinen Sie? „Ich hatte ein geiles Lebensgefühl“ – irgendetwas stimmt für mein Dafürhalten hier nicht. Letztlich ist das seines Lustversprechens weitgehend beraubte Wörtlein mir auch zu sehr Jugendjargon. Wie auch immer: mein Lebensgefühl war nie – davor und danach – so stark und kräftigend wie in den genannten Jahren. Ich war erfüllt von Lebenslust und Selbstsicherheit, lebte in der Gewißheit, „schön“ zu leben, frei zu sein, ein schreibender Mensch zu sein und werden zu können. Ich traute mir alles zu. Ich war sehr lebensgierig. Biberach war in den Siebzigern gar nicht so übel, ich dachte damals schon so. Es war ein – s.o. – schlecht zu erfassendes Fluidum in der Stadt, das „von 68 her“ wirkte und von den verschiedenen Gruppen, Grüppchen, Initiativen, vom „Strauß“, vom „Rebstock“, gegen Ende des Jahrzehnts vom „Alten Haus“, von Schlaghosen, langen Haaren, beringten Jungenfingern, hennafarbenen Haaren, engen Jeansjäckchen, barfüßigen Freaks, Haschwölkchen (nicht in meinem Kopf), „Enten“-Citroens, Rockkonzerten, Jazzkonzerten, Pokernächten im „Schwanenkeller“, meiner IBM-Schreibmaschine, Wohngemeinschaften, politischen Aktionen und Aktiönchen, gelungenen und gescheiterten, Essengehen beim Griechen im „Pflug“ neben dem Museum, Ausstellungen, Ausstellungsskandälchen, langen Lesenachmittagen in der Stadtbücherei, „sinnlosen Besäufnissen“, Katern (im Kopf und im Zimmer), Gin und Dimple-Whisky, Rotwein en masse diverser Lagen, Zigarettendunst vermischter Marken, sexlosen Nächten, etlichen wichtigen Büchern, von Fehlern und Unterlassungen, von Klugheit und Dummheit, Freundschaft, nächtlichem Klavierspiel, Kleinstadtgangs, neuesten Nachrichten aus dem Drogendezernat der örtlichen Polizei (gerüchteweise), Discos, Spielhallengeräuschen, Eifersucht, Raggae-Platten, Plateausohlen, Clogs, Manuskripten, Filmen, Kinobesuchen, Kinoarbeit, Filmfestspielen, Parties, wo ich die durch Hausvaters Sorge versteckte Cognac-Flasche doch entdeckte, von Tod, Liebesverlangen, Enttäuschungen, von vielem, was unter et cetera steht und nicht mehr erwähnt wird, ausströmte – soweit es in mich einströmte.
- Heißer Sommertag. Im Süden von Berlin flogen die Jets, die hier zu beobachten waren, über den mächtig aufgebauschten weißen Wolken von West nach Ost und von Ost nach West. An den Unterseiten der Wolken graue Zonen; in die das Licht nicht durchdrang?
2.6.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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