31
Mai

31.5.2002

Ein paar wenige Jahre früher – wenige, sage ich jetzt, in meinem heutigen Bewußtsein, das ermessen kann, wie immer rascher die Jahre aufeinander folgen, wenn man aus seiner Jugend hinausgegangen ist, aber in der Kindheit war jedes einzelne Jahr ein langer Zeitraum und wenige Jahre kamen einem vor wie heute viele, und jedes hinter sich gelassene Jahr bedeutete, in einer dialektischen Volte, von der man nun gar nichts ahnte, einen weiten ausgreifenden Schritt nach vorn in das sogenannte Leben hinein – , als meine Großmutter noch lebte, 1960, oder 1961, stützte ich im Sommer oft die Ellbogen auf den von den Sonnenstrahlen erwärmten, sogar heißen grauen Stein des Fenstersimses vor dem Schlafzimmerfenster, legte den Kopf in beide Hände und sah über den Garten und die Straßen und träumte, eines Tages ein Auto zu besitzen und mit meiner Mutter und meiner Oma Ausflüge zu unternehmen; stellte mir vor, wie ich am Steuer sitzen und das Auto, wobei es mir auf die Marke nicht ankam, durch Biberacher Straßen und Städte – die mir noch unbekannt waren, deren Namen ich aber kannte und von denen ich ein paar Fotos irgendwo in einer Zeitschrift, „Stern“ oder „Quick“, die aber bei uns fast niemals herum lagen, aber vielleicht bei Frau H., gesehen hatte – lenken würde; der heiße Sims, über dessen graue rauhe Steinoberfläche ich mit den Fingern strich, wärmte die Ellbogen erst und stach mit einem Mal seine Hitze in die Ellbogenhaut, dann stützte ich mich eine Weile auf die Handflächen, schloß die Augen, die Sonne schien mir auf die Haare, ich imaginierte mit geschlossenen Augen mein Autofahren, stellte mir vor, wie wir die Abreisevorbereitungen trafen, morgens einstiegen, kurvenreiche Landschaften hinter uns ließen, anhielten, wo es etwas Interessantes zu besichtigen gab, herumspazierten, einen Kuchen essen würden, wieder einstiegen und so durch Sommertage reisten; das war eine angenehme innere Welt. Nach dem Tod meiner Großmutter hörten diese Phantasien auf, und ich stützte auch nicht mehr die Ellbogen auf den sommerlich heißen Fenstersims. Ich fuhr auch in meinem ganzen Leben kein Auto.

- Der sonst schöne Tag hatte eine Neigung zu Schauern; nach 13 Uhr fiel der erste kurze, am späten Nachmittag der zweite, schon längere, bis der dritte, von einem nicht sehr ausgiebigen Gewitter begleitet, ein Hagelschauer war, der in die Stadt, jedenfalls den Bezirk Mitte, sehr dünne weißliche Pfeile schoß, hinter dem sofort wieder das Sonnenlicht strahlend herein zog.
31.5.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6797 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren