28.5.2002
Ein Abend im voll aufgeblühten Frühling, in den letzten Tagen des Mai; vor einundzwanzig Uhr oder ein paar Minuten danach; ich trete aus dem Haus, gehe die Treppe hinunter, über den Weg zum Gartentörchen, an dem innen die beiden Briefkästen hängen, ziehe das Törchen auf, hinter mir zu, gehe in meinem weißen Mantel, trage vielleicht seit ein paar Tagen die rote Hose, die aber den typischen Jeans nicht ähnelt, sondern einen anderen Schnitt hat, deren Hosenbeine unten auch nicht gar so weit sind, wie es der jungen Mode der Zeit sonst entspricht, die nur bequem über die schwarzen Stiefel mit den Plateausohlen fallen. Unter dem weißen Mantel habe ich die weiße enge Jeansjacke an, zu der ich auch eine passende Jeanshose habe (die aber in der Reinigung ist), in der linken Brusttasche des Jäckchens steckt die angebrochene Zigarettenschachtel der Marke „Players“ vielleicht, oder „Nil“, nach der ich jetzt, ich gehe den steileren Weg zur Gaisentalstraße hinunter, mit einer schon fast unbewußt ausgeführten Arm- und Handbewegung der rechten Hand greife. Der Regen, der für zwei Stunden in den Abend hinein gefallen ist, hat sich nach Osten weiterbewegt, vom leichten Wind – jetzt leichten, vorhin stärkeren – aus dem Westen vom frühnächtlichen Himmel vertrieben; hat die Luft gereinigt, ein wenig aufgefrischt, sie trägt noch etwas Wärme, so gehe ich mit offenem Mantel über die Straße und auf den Weg, der sich im Wäldchen zwischen dem Hang, den der flache Gigelberg hier bildet, und der lang gezogenen Gaisentalstraße in flacher Neigung mit wenigen sanften Kurven zum Stadtinneren hinabschlängelt. Ich bleibe stehen, zünde die Zigarette mit dem Flämmchen aus einem Feuerzeug an, inhaliere den ersten Zug, während ich, den Stockschirm in der Linken, voran spaziere. In jenen Jahren Mitte der Siebziger trage ich nur selten Kopfbedeckungen. Ich habe einen alten Borsalino, den ich mir nur manchmal auf den Kopf setze. Das dunkle Grün der Blätter über mir rauscht in den Bäumen, durch die, von oben, von Blatt zu Blatt, Regentropfen rinnen, leise und beruhigend, dann wieder heftiger, fast aufbrausend, wenn eine späte Böe doch noch in die Wipfel greift und sie schüttelt und das Naß, das dort oben haftet, über’s dichte Gesträuch entlang des Gehweges und auf ihn streut. Jemand kommt mir im Halbdunkel des Weges, das in Abständen von Laternen aufgehellt wird, entgegen, strebt hinauf zu den westlichen Stadtteilen, zum Gaisental, zum Weißen Bild oder zum Lindele, oder zum neu entstandenen Stadtbereich hinter dem Lindele, der mir gar nicht vertraut ist. Ein kurzer Blick zeigt mir kein bekanntes Gesicht, dann sind wir aneinander vorüber gegangen. Ich rauche, ich habe den Zigarettenrauch und -geschmack in Nase und Mund, ich habe etwas Alkohol im Kopf, eben so viel, um nicht ganz nüchtern in den „Strauß“ hineinzugehen; ich denke über etwas nach, vielleicht habe ich gelesen, etwas Literarisches oder Politisches, oder ich frage mich, wer im „Strauß“ sitzen wird; ich werde mich unterhalten, aber mit wem? Ich gehe aus dem Wäldchen hinaus, vorbei an den Findlingssteinen, auf denen ich als Grundschüler turnte und kletterte und die an manchen Stellen blank poliert sind, weil eine Menge Jahrgänge von Kindern an ihnen hinunter rutschten; rechts steht ein besonders großer Brocken mit einer ovalen eingearbeiteten Metalltafel auf seiner Vorderseite, die ein großes Medaillon sein könnte, wenn Medaillons so groß wären: das Bismarckdenkmal, denn hier beginnt der Bismarckring. Schräg gegenüber auf der andern Straßenseite steht das Haus, in dem Falk und Gerd und andere wohnen; ein verwilderter Garten, im Licht der Laternen der Kreuzung, die Bismarckring, Mondstraße, Birkenharder Strauße und Gaisentalstraße formen, eher zu erahnen als zu sehen, schließt das Grundstück nach Westen ab und nach Osten hin liegen die Gebäude des Autohauses M., und das gesamte Gelände gehört U.G., einem meiner Bekannten. Die Fenster im Erdgeschoß sind nicht erleuchtet: Hinweis darauf, daß die Bewohner nicht in ihren Zimmern sind. Ich vermute also, sie sind im „Strauß“. Rechts steigt der Hang zum Gigelberg jetzt steil auf, der unerhellte Riegel der Schützenkellerhalle mit ihrem runden Pavillon wirkt wie in den Berg gedrückt, weiter vorn, auf der kleinen Hoch- oder Zwischenfläche auf dem Weg nach ganz oben, Licht in Fenstern der Gaststätte „Schützenkeller“. Autos fahren mit dem Geräusch nasser Reifen auf feuchten Straßen vorüber, die Strahlen aus ihren Scheinwerfern lassen den Asphalt glänzen und spiegeln; die Fords oder Opels oder VWs biegen vorne nach rechts in die Wielandstraße ein oder rollen geradeaus auf dem Bismarckring weiter, wo sie in einer Minute am Betriebsgelände von „Kaltenbach & Voigt“ vorbeikommen werden; ihre roten Rücklichter verblassen im Regendunst, der sehr fein und – nicht wegen der Dunkelheit – unsichtbar in der Luft schwebt. Um diese Uhrzeit ist Biberach schon still. Auch ich gehe nach rechts ab. Der „Strauß“ liegt am anderen Ende der Straße, die vier Fenster der Nordseite des Gastraums sind unscharfe helle Flecken. Hier ist die Stadt belebter. Passanten kommen einzeln oder zu zweit aus den anderen Straßen, die in die Wielandstraße münden, mir entgegen, oder sie gehen, schlendern, jeder hat seine Gangart, auf die Consulentengasse zu, wie ich, zum Marktplatz, zum „Rebstock“ , zu einem Haus in der innern Stadt, in dem sie wohnen. Ich aber setze den Fuß in die Türöffnung, die die offen stehende, an der Wand befestigte Eingangstür des „Strauß“ bietet, öffne die zweite Tür zum Gastraum, aus dem mir – wie vertraut doch diese Mischung aus Geräuschen und Tönen ist!; und tatsächlich spielt die Musikbox „Black Magic Woman“ von Santana ... – ein milder Kneipenhauch entgegen strömt, der wieder einen guten Abend im Jahr 1974 verspricht.
- Regnerisch grau; unter dem gleichmäßigen hellen Grau einer oberen Wolkenschicht lange dunklere Streifen und Flächen, die als einzelne Wolken kaum von der oberen Wolkendecke zu unterscheiden waren. Nur am späten Nachmittag für eine kleine Zeit etwas Sonnenlicht, das bald verschluckt wurde.
28.5.2002
- Regnerisch grau; unter dem gleichmäßigen hellen Grau einer oberen Wolkenschicht lange dunklere Streifen und Flächen, die als einzelne Wolken kaum von der oberen Wolkendecke zu unterscheiden waren. Nur am späten Nachmittag für eine kleine Zeit etwas Sonnenlicht, das bald verschluckt wurde.
28.5.2002
28.05.