19.5.2002
Schmidt war einen Tag vor dem Hl. Abend 1972 von einem Besuch in Kassel schon wieder nach Biberach zurückgekommen, Ostern 1973 noch einmal auf einen Kurzbesuch in seiner Heimatstadt gewesen. Dieses Zurückkommen in die ihm noch vor einem Dreivierteljahr unbekannte Stadt hatte, unabhängig von der Ausbildung, die er hier erfahren würde, durchaus die Bedeutung des Wiedereintreffens in einer vertrauten, heimatlichen Umgebung, denn rasch hatte er sich, nicht zuletzt durch die Sozialisation, die ihm der „Strauß“ angedeihen ließ, und durch die neuen Bekanntschaften, die sich der gleichen politischen Idee verpflichtet fühlten, in Biberach angenommen und aufgenommen gefühlt, und seine Kasseler Jugendzeit hatte er hinter sich gelassen und auf etwas anders und Neues vor sich eingelassen. Nach jener ersten Begegnung mit mir am Infostand im November `72 hatte er sich, meinem Hinweis, man würde immer im „Strauß“ sitzen, gleichsam nachgehend, schon am frühen Abend des ersten Tages, als er auf die Biberacher SDAJ-Gruppe gestoßen war, im “Strauß“ eingefunden, und in den folgenden Tagen, Wochen, Monaten hatten er, Gerold A. und D. (beide ebenfalls Hauchler-Schüler) fast jeden Abend mit uns Biberachgebürtigen an den Kneipentischen gesessen; so hatten wir uns befreundet. Er war jemand, der sich ungern etwas sagen ließ, und ich schätzte das. Etwas bärbeißig manchmal, mit Sinn für Ironie. „Was ist denn das für einer, der muß es nötig haben“, hatte er gedacht, ein paar Abende nach der Bundestagswahl, in der Brandt glanzvoll im Amt bestätigt worden war, als ich, um zu beweisen, daß auch ich lange Haare getragen hatte, ein Foto herumreichte, auf dem meine Mähne, wichtiges Attribut meiner Selbstliebe, noch nicht von der kapitalistischen Unterdrückungsmaschinerie „Bundeswehr“ zerstört war. Dieses Fotozeigen war nichts anderes als der Versuch, meine beschädigte Identität aufzurichten, gewesen, ich hatte es also sehr wohl nötig gehabt. Daß er das gedacht hatte, sagte er mir irgendwann, vielleicht im Juni 1973, als er mich gut genug kannte und als das Repertoire und die Darbietungskunst der Songgruppe „Agitprop“, die er im Winter – er hatte seine Akustikgitarre aus Kassel mitgebracht – gemeinsam mit Gerold A., Bernie H., dessen Freundin B. und einer zweiten weiblichen Gesangshobbykünstlerin auf ihre zehn Beine gestellt hatte, so gut geworden waren, daß „Agitprop“ am Rockmusikfestival teilnehmen konnte, das das Kulturamt initiiert hatte und das an einem Junisamstag, vom Nachmittag bis in den Abend hinein, in der Gigelberghalle stattfand. Schmidt hatte in Kassel damit begonnen, zur Klampfe linke Lieder zu singen und hatte Ostern 1972 beim von SDAJ und „Pläne“-Verlag organisierten „Festival der Liedermacher“ in der Stuttgarter Liederhalle gesungen, wo auch Degenhard, Dieter Süverkrüp, Dietrich Kittner und andere gespielt hatten. „Sympathy for the Devil“, der Song der Stones, hatte ihm für Brechts „Ballade von der Billigung der Welt“ den Rhythmus- und Melodierahmen geliehen. „Degenhard kam auf mich zu und fragte, ob ich ihn vor mir auftreten lassen könnte, denn er mußte sein Flugzeug erreichen“, erzählte Schmidt mir Jahre danach, „und ich sagte ihm, wenn ich nach Degenhard auftrete, kann ich mir meinen Auftritt sparen. Der Abend war dann ja gelaufen. Natürlich ließ ich ihn vor.“ Franz Josef Degenhard – der gute F.J., der böse war CSU-Strauß – war in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren der berühmteste der linken deutschen Sänger, die aus der „Liebermacherbewegung“ von Burg Waldeck hervorgegangen waren; ein Mann, dessen LPs auf linken Parties rotierten, wenn man mal etwas zur kämpferischen Erbauung und Bestätigung brauchte, zwischen Santana, Jimi Hendrix, Deep Purple, The Mothers of Invention, Cream, The Doors ... Selige Rockpopzeiten! „Lerynn“, by the way, ein bekannter linker Barde aus Frankfurt, ist als Dr. D. Dehm nun stellvertretender Parteivorsitzender der PDS, „Schlauch“, im Ländle um Stuttgart herum auch eine Auftrittsnummer gewesen, (noch) als Fraktionsvorsitzender der Grünen/Bündnis 90 im Bundestag. Beziehen sie Tantiemen für ihre kommunistisch inspirierten Kampflieder? Vermutlich vergammeln ihre Platten in den Abstellkammern von Oberstudienräten und Abteilungsleitern. „Agitprop“ schmetterte also auch, ich fotografierte unsere Leute auf der Bühne, Lieder des Ostberliner „Oktoberclubs“ („Sag mir wo du stehst“) und der „Drei Conrads“ aus Düsseldorf („Wem soll getraut werden beim Kampf gegen den Imperialismus?“ Antwort: „Traut euch selbst!“) und stellte mit diesen Songs – Manfred trug seinen roten Pullover – die Gedankenverbindung zu den im (west)deutschen Land blühenden sozialistischen Ideen, Initiativen und guten Absichten her und bekam vom Publikum auch schönen Applaus, was einige Befürchtungen von Kulturoffiziellen zerstreute; der Rockmusik haftete ja noch immer das in den Sechzigern kultivierte Image von Rebellion an, wenigstens hielten ein paar ihrer Akteure es, trotz gnadenloser Kommerzialisierung, die es ramponiert hatte, aufrecht, so rettete fast der Auftritt von „Agitprop“ diesen etwas verblichenen Anspruch der Rockmusik an sich selber, an diesem Junisamstag in Biberach; allerdings war das nicht das Anliegen der SDAJ-Gruppe, die sich auf diese Weise bei den jungen Leuten bekannt machen wollte, gewesen. Auch wir hörten Rock und Pop, was denn sonst, ihre angeblich subversiven Töne hatten wir aber nie für politisch relevant gehalten. Vielleicht aber hatte dieser Sound, der von 1965 bis 1975 aus Radios und „Stereoanlagen“ hämmerte, dröhnte, jaulte, fiepte, flötete, sang, sprang, schwebte, harmonisch und disharmonisch, mit und ohne Notenkenntnissen auf Stratocaster-E-Gitarren, E-Pianos, Fenderbässen, Marshall-Schlagzeugen, Sitarsaiten, Querflöten, Trompeten, Tambourines – „Hey, Mister Tambourine Man, sing a song for me ..“ – und anderen Verdienstobjekten für Musikalienhändler gespielt, die Welt, die meine Generation sich anzueignen anschickte, mehr verändert als alle sozialistischen Theorien und Gruppen; ob diese auf scheinwerferbestrahlten Bühnen standen oder in feuchten Kellern diskutierten und Bier tranken. Das Zeitungsblatt am Ort titelte als Resumée des ersten großen Auftritts von lokalen jungen Musikern der Rockszene: „Traut euch selbst.“
- Der feingraue Regentag radierte da und dort die Kirchturmspitzen weg.
19.5.2002
- Der feingraue Regentag radierte da und dort die Kirchturmspitzen weg.
19.5.2002
19.05.