18.5.2002
Wie erfuhren wir SDAJ-Aktivisten vom Kellergewölbe im Südhang des Gigelbergs? Irgendwann im Sommer `73 mieteten wir es als „Freizeitraum“, Manfred Schmidt pinselte „Gruft“ an die Kellerwand, unter der die lange steile Treppe hinabführte. Unten gab es eine Ausbuchtung der Wand nach links, nur zwei Meter tief, nach rechts hin betrat man den Gewölberaum, vor dessen rechter Seite eine einfache Holztheke mit Abstellflächen auf der Ausschankseite und links, wenn man hinter der Theke stand. Im hinteren Bereich des Gewölbes trennte eine Holzwand, an der die Theke an dieser Seite auch endete, den vorderen größeren Teil vom kleineren hinteren nur andeutungsweise ab, sodaß der hintere von ihr zur Hälfte seiner Fläche zu einer Art Nische gemacht wurde. Dieser Teil des Raumes hatte auch eine Holzplattform von geringer Höhe. Wie die Theke war auch sie von der längst nicht mehr existierenden „Jugendinitiative“ idee 68 in das Gewölbe, das in früheren Zeiten als Bierkeller oder zu anderen Lagerungszwecken genutzt worden sein mochte, eingebaut worden. Sogar zwei Barhocker fanden wir noch vor. Wir stellten einen alten Tisch und ein paar Stühle hinein, das war unser „politischer Keller“.
Am 7. September 1973, meinem 22. Geburtstag, fuhren Ronald v. R. und ich nach Stuttgart, um die Dokumentation zum Radikalenerlaß, zu den Berufsverboten für linke Lehrer und Lehramtsanwärter herstellen zu lassen. Am nächsten Tag war Aktionstag mit einem Infostand auf dem Marktplatz und einer Abendveranstaltung (und was hatte sich noch ereignet?) (War diese Abendveranstaltung überhaupt noch zustande gekommen?) Ronald und ich – leicht bekleidet, es war ein sehr heißer Tag – hockten im Zugabteil und tranken Bier und ich hatte schon zwei Flaschen intus, als wir in Stuttgart einfuhren. Die Dokumentationsunterlagen, die zu vervielfältigenden, hatten wir in einer Tasche dabei, doch plötzlich hieß es im Büro des Landesvorstands der SDAJ, unsere Publikation könne, es war ein Freitag, nicht mehr rechtzeitig fertig werden. Natürlich hatten wir uns ein paar Tage zuvor damit angemeldet. Schlamperei! Ohne diese Publikation, schon in der lokalen Presse als zentrales Ereignis des Aktionstages angekündigt, durften wir die ganze Sache vergessen. Nach einigem Hin und Her, nach etlichen Telefonaten, sprachen wir im Landesbüro der Judos, der Jungen Demokraten, der Jugendorganisation der FDP, vor; die waren damals ziemlich links-liberal, wobei die erste Silbe zu betonen war, und jemand von uns hatte jemand von ihnen via Telefon gefragt, ob ...; sie hatten zugesichert, daß diese Dokumentation über die nichtliberale Politik der sozialliberalen Koalition in ihrem Büro hergestellt werden konnte. Es geschah so. Ronald überwachte das Ansteigen unseres kleinen Papierberges, denn diese Publikation umfaßte, wie ich doch richtig zu erwähnen hoffe, fast fünfzig Seiten, vielleicht sogar mehr – wäre es möglich, daß in meinem Kellerverschlag in den unausgepackten Kisten ...? – und wurde in einer Auflage von etwa fünfzig Exemplaren, die wir zu verkaufen gedachten, produziert, im Judo-Büro, in dem ein Endzwanziger im Sakko saß und gemütlich rauchte, „jaja, gebt her, das machen wir mal“, während ich versuchte, U.W. im spätsommerlich aufgeheizten Stuttgarter Kessel zu finden, was nach ein paar zusätzlichen Telefonaten in diversen Telefonzellen auch gelang. Zwischendurch rief ich im Jungliberalenbüro an, um von Ronald zu erfahren, wie weit die Dinge dort gediehen seien und bis wann alles gemacht sei; damit ich U.W. sagen konnte, wann wir uns auf die Rückreise nach Biberach begeben würden; er mußte, eine andere bezahlbare und zeitlich praktikable Möglichkeit bestand nicht, Ronald, die Papierstapel und mich nach Oberschwaben transportieren. Er war nicht begeistert, als ich endlich in seiner Wohnung stand und auch sofort mit ihm zu einem Genossen fuhr, den er unbedingt noch aufsuchen mußte, und seine Freundin noch weniger, aber er sah ein, daß die revolutionäre Arbeit auch Unvorhergesehenes parat hielt. Ich rief wieder Ronald an, der Judotyp nahm ab, dann hatte ich R. dran, der sagte, vorhin hätte die Druckerei einen Zeitverlust erlitten, als eine dafür benötigte Apparatur ausgefallen sei, nun jedoch liefe alles weiter, man müsse eine Stunde länger warten. Ich sagte das U.W., seine Laune wurde dadurch nicht besser. Es war klar: er hatte Schöneres vorgehabt, als am Freitag Abend ins halbvergessene Biberach zu gondeln. Dann hatten wir alles eingepackt, wir bedankten uns beim Judo-Mann, der grinste gemütlich, es sei okay, stiegen in den VW, ich hockte hinten neben dem Papier, es ging nachhause, zum Keller, in dem die Genossen – Genossinnen hatten wir zu dieser Zeit wohl keine – inzwischen darauf warteten, diese Papierstapel zu einer umfangreichen Berufsverbotsdokumentationspublikation zusammenlegen zu können. Nach 21 Uhr fuhren wir dort unter der breiten Terrasse des damals als Ruine stehenden „Pflugkellers“, die über eine sandige Fläche, eine kleine Abstufung des Südhangs des Gigelbergs, ragt, vor, und trugen all das bedruckte Papier hinunter. „Ich glaube“, schmunzelte Ronald, „der Typ von den Judos hat nicht so richtig gewußt, wer wir sind.“ Er lachte. Bald danach, Uli Weitz war zu seinem Elternhaus auf dem Mittelberg gefahren, gingen wir alle eine Stunde oder länger um den Tisch herum und legten die einzelnen Blätter zu langsam höher werdenden Papierstößen zusammen, aus denen fünfzig Publikationen wurden, sangen linksrevolutionäre Lieder, von den Moorsoldaten, von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, denen wir’s geschworen hätten, vom roten Wedding und von der „So-li-da-ri-tät!“. Ich trank unablässig Bier und war mit meinem 22. Geburtstag rundum zufrieden.
- Sommerwärme und Sommersonne über Berlin. Dämmerungsbläue ohne viele Zirrhuswolken.
18.5.2002
Am 7. September 1973, meinem 22. Geburtstag, fuhren Ronald v. R. und ich nach Stuttgart, um die Dokumentation zum Radikalenerlaß, zu den Berufsverboten für linke Lehrer und Lehramtsanwärter herstellen zu lassen. Am nächsten Tag war Aktionstag mit einem Infostand auf dem Marktplatz und einer Abendveranstaltung (und was hatte sich noch ereignet?) (War diese Abendveranstaltung überhaupt noch zustande gekommen?) Ronald und ich – leicht bekleidet, es war ein sehr heißer Tag – hockten im Zugabteil und tranken Bier und ich hatte schon zwei Flaschen intus, als wir in Stuttgart einfuhren. Die Dokumentationsunterlagen, die zu vervielfältigenden, hatten wir in einer Tasche dabei, doch plötzlich hieß es im Büro des Landesvorstands der SDAJ, unsere Publikation könne, es war ein Freitag, nicht mehr rechtzeitig fertig werden. Natürlich hatten wir uns ein paar Tage zuvor damit angemeldet. Schlamperei! Ohne diese Publikation, schon in der lokalen Presse als zentrales Ereignis des Aktionstages angekündigt, durften wir die ganze Sache vergessen. Nach einigem Hin und Her, nach etlichen Telefonaten, sprachen wir im Landesbüro der Judos, der Jungen Demokraten, der Jugendorganisation der FDP, vor; die waren damals ziemlich links-liberal, wobei die erste Silbe zu betonen war, und jemand von uns hatte jemand von ihnen via Telefon gefragt, ob ...; sie hatten zugesichert, daß diese Dokumentation über die nichtliberale Politik der sozialliberalen Koalition in ihrem Büro hergestellt werden konnte. Es geschah so. Ronald überwachte das Ansteigen unseres kleinen Papierberges, denn diese Publikation umfaßte, wie ich doch richtig zu erwähnen hoffe, fast fünfzig Seiten, vielleicht sogar mehr – wäre es möglich, daß in meinem Kellerverschlag in den unausgepackten Kisten ...? – und wurde in einer Auflage von etwa fünfzig Exemplaren, die wir zu verkaufen gedachten, produziert, im Judo-Büro, in dem ein Endzwanziger im Sakko saß und gemütlich rauchte, „jaja, gebt her, das machen wir mal“, während ich versuchte, U.W. im spätsommerlich aufgeheizten Stuttgarter Kessel zu finden, was nach ein paar zusätzlichen Telefonaten in diversen Telefonzellen auch gelang. Zwischendurch rief ich im Jungliberalenbüro an, um von Ronald zu erfahren, wie weit die Dinge dort gediehen seien und bis wann alles gemacht sei; damit ich U.W. sagen konnte, wann wir uns auf die Rückreise nach Biberach begeben würden; er mußte, eine andere bezahlbare und zeitlich praktikable Möglichkeit bestand nicht, Ronald, die Papierstapel und mich nach Oberschwaben transportieren. Er war nicht begeistert, als ich endlich in seiner Wohnung stand und auch sofort mit ihm zu einem Genossen fuhr, den er unbedingt noch aufsuchen mußte, und seine Freundin noch weniger, aber er sah ein, daß die revolutionäre Arbeit auch Unvorhergesehenes parat hielt. Ich rief wieder Ronald an, der Judotyp nahm ab, dann hatte ich R. dran, der sagte, vorhin hätte die Druckerei einen Zeitverlust erlitten, als eine dafür benötigte Apparatur ausgefallen sei, nun jedoch liefe alles weiter, man müsse eine Stunde länger warten. Ich sagte das U.W., seine Laune wurde dadurch nicht besser. Es war klar: er hatte Schöneres vorgehabt, als am Freitag Abend ins halbvergessene Biberach zu gondeln. Dann hatten wir alles eingepackt, wir bedankten uns beim Judo-Mann, der grinste gemütlich, es sei okay, stiegen in den VW, ich hockte hinten neben dem Papier, es ging nachhause, zum Keller, in dem die Genossen – Genossinnen hatten wir zu dieser Zeit wohl keine – inzwischen darauf warteten, diese Papierstapel zu einer umfangreichen Berufsverbotsdokumentationspublikation zusammenlegen zu können. Nach 21 Uhr fuhren wir dort unter der breiten Terrasse des damals als Ruine stehenden „Pflugkellers“, die über eine sandige Fläche, eine kleine Abstufung des Südhangs des Gigelbergs, ragt, vor, und trugen all das bedruckte Papier hinunter. „Ich glaube“, schmunzelte Ronald, „der Typ von den Judos hat nicht so richtig gewußt, wer wir sind.“ Er lachte. Bald danach, Uli Weitz war zu seinem Elternhaus auf dem Mittelberg gefahren, gingen wir alle eine Stunde oder länger um den Tisch herum und legten die einzelnen Blätter zu langsam höher werdenden Papierstößen zusammen, aus denen fünfzig Publikationen wurden, sangen linksrevolutionäre Lieder, von den Moorsoldaten, von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, denen wir’s geschworen hätten, vom roten Wedding und von der „So-li-da-ri-tät!“. Ich trank unablässig Bier und war mit meinem 22. Geburtstag rundum zufrieden.
- Sommerwärme und Sommersonne über Berlin. Dämmerungsbläue ohne viele Zirrhuswolken.
18.5.2002
18.05.