14
Mai

14.5.2002

Um 8.45 Uhr bin ich aufgestanden, sinnierte zuvor eine ganze Weile, wieder, zum wievielten Mal?, warum ich in meinem Leben so wenig Sex hatte, daß ich sagen kann, ich hatte ja gar keinen Sex. Wieder ist mir das eigenartig vorgekommen. Ich fand keine Partner, weil ich eigentlich keine suchte? Ganz so war es nicht, nicht alles an diesem Verhalten kann mit Narzißmus erklärt werden. Ich schrieb schon: ich war selbstbewußt nach außen und doch zu distanziert. Ich hörte in den frühen Siebzigern, ca. 1974, das war eher in der Mitte der Siebziger, gelegentlich Äußerungen in meiner Umgebung, ich sei sehr „sophisticated“, ich hätte etwas von einem Snob. Nein, ich war stolz und gehemmt. Jedenfalls was die sexuellen Angelegenheiten betraf. Ich war auch ängstlich, wollte mir keinen Korb einhandeln, also eben zu stolz. Dann war ich zu ängstlich, Typen, die mir, wenige waren es in all den Jahren, gefielen, einfach anzusprechen. Die Ursache daran lag auch nicht allein in der äußeren einschränkenden und unterdrückenden Kleinstadtmentalität. Ich hatte auch den Gedanken im Kopf, das könne ich doch diesem Typen gar nicht zumuten. Ich war besorgt um sein Seelenheil und hätte mehr auf meines achten sollen. Ich war frustriert vom Beginn der siebziger Jahre bis zu ihrem Ende, und danach wurde ich auch nicht zufriedener. Kann man so leben, ohne auszurasten? „Ich sublimiere eben“, hallte das Echo durch die Jahrzehnte. Ich will ja nicht herumanalysieren, bin aber überzeugt davon, daß dieser immerwährende Gefühlsstau, oder, wenn man es weniger romantisch haben will, dieser Triebstau eine der Ursachen der Krankheit, wegen der ich nun am Abend des 14. Mai 2002 im vierten Stock dieses großen langen Gebäudes im alten Klinikgelände der Charité in einem Vier-Bett-Zimmer, zur Zeit allein, sitze, ist. Dieses Thema geht mir im Kopf herum. Mein Verhalten war ganz und gar nicht natürlich, schon gar nicht für eine Zeit, die Siebziger und die Jahre danach, in der kaum etwas anderes so präsent war wie die Propaganda der „freien Liebe“, der „befreiten Sexualität“ und aller davon abgeleiteten Schlagwörter. Und das bezog sich zunehmend auch auf die als „unnatürlich“ geltenden Arten und Praktiken der Liebe; was selbst in Biberach, wenn auch nicht in allen Kreisen, eine gewisse halböffentliche Akzeptanz fand, nachdem man sie ja auch schon immer getrieben hatte. Was auch beim Überdenken dieses Themas herauskommt: ich hatte mich, ich weiß es seit vielen Jahren, einfach formuliert einfach zu dämlich angestellt. Die Dämlichkeit war ein Erziehungs- und Moralprodukt. Ich bedauere wirklich, nicht mehr rumgevögelt zu haben. Ich hätte das Edelmenschenbild, das ich in mir von mir herumtrug, zerstören sollen; wäre dann bestimmt ein anderer Charakter geworden. Und welcher? Ich hatte ja stets nur wenig bewußten Umgang mit dem Körperlichen, siehe auch meine Unlust am Sport; dabei war mir klar, daß mein Körper okay war, dieser Schatz, der mir zugefallen war, war aber selbstverständlich und der Beachtung nicht weiter wert. Oder doch? Schließlich war ich in den Siebzigern hypochondrisch um ihn besorgt. Diese neurotische Ängstlichkeit korrespondierte – und ich erkannte das auch – mit der schon erwähnten. (Nun fährt hinter der Lücke, die die beiden Häuserwände auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Gelände der Charité bilden, in der eine schmale Pappel oder ein einer Pappel ähnlicher Baum vom Wind bewegt wird, ein ICE vom Ostbahnhof hinüber zum Bahnhof Zoologischer Garten.) Wahrscheinlich zählte ich zu jener Sorte Intellektueller, die selbst in einer sexualisierten Zeit über ihre Schwierigkeiten mit dem Sexus nicht hinwegsteigen können. Aber, freilich, auch in anderen Provinzen hatten junge Schwule damals Ärger mit ihrem nichtgelebten Sex; haben es heute noch, denn die Großstadtszenen und die literarischen Ergüsse, und dieses Wort ist hier an der richtigen Stelle, die sie hervor quellen lassen, und ich meine damit nicht nur die schwulen, sprechen eben nicht von dem, und wenn, dann ungern und verächtlich, was sich in Regionen abseits der kümmerlichen deutschen Metropolen tut oder nicht tut; was da getan und wie dort gelebt wird, manchmal gelebt werden muß. Ich war in Biberach ab den siebziger Jahren nur selten glücklich (das Wort nehme ich jetzt einmal ganz naiv) und wüßte gern, ob mir’s in einer anderen Stadt auch so ergangen wäre.
- Vormittags Sonnenschein. Über Mittag bis etwa 15 Uhr trüb, und Regen fiel, bis wieder heiß die Sonne brannte. Wieder Eintrübung gegen 18 Uhr, vor der Dämmerung brach im Westen gleißend weiß das Licht durch.
14.5.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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