8.5.2002
Wäre heute nicht der 8. Mai, würde ich mich vor einigen Minuten nicht an das Franzosenwäldchen erinnert haben; es würde in diese Erinnerungen, die doch nur fast alles unberücksichtigt lassen, was mein Leben war und nur einiges von dem, was sich Tag nach Tag zu Wort zu melden vermag, auf’s Papier bugsieren, bestimmt nicht aus meiner Kindheitslandschaft hineingeschwebt sein. Biberach war einmal gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bombardiert worden, die Ulmer Tor-Straße hatte dabei einige Häuser verloren, ob Menschen umgekommen waren, müßte ich recherchieren, im Stadtarchiv und in alten Ausgaben der „Schwäbischen Zeitung“, die aber erst nach dem Krieg gegründet wurde, wenn ich richtig informiert bin (notfalls korrigiere ich das), welche sich in späteren Jahren mit der Zerstörung der Ulmer Tor-Straße befaßte – und zwar erst, wie ich mich genauer entsinnen kann, vor ein paar Jahren wieder –, wäre davon zu lesen. Während des Krieges war hinter dem Lindele, nördlich der Stadt, ein Kriegsgefangenenlager errichtet worden, das „Lager Lindele“, wie es nach dem Krieg genannt wurde, in dem fast nur englische Soldaten interniert gewesen waren. Der Vater von Klaus Leupolz – ich sollte einmal erwähnen, daß K.L. drei Brüder und eine Schwester hatte; Eckart Leupolz, als Ekke L. stadtbekannt wie Klaus L., starb Ende des Winters an Krebs – hatte dort als deutscher Offizier zur Wachmannschaft gehört. Die kleine oberschwäbische Kreisstadt hatte dann im französischen Besatzungsgebiet gelegen, das auch Oberschwaben umfaßt und also bis zur Donau gereicht hatte. Nördlich davon war die englische Besatzungszone eingerichtet worden. Das erfuhr ich so richtig erst, als meine Mutter und ich für zwei Wochen meiner Sommerferien Anfang der Sechziger in Geislingen bei Frau S. urlaubten, und einer ihrer beiden Söhne, damals Student, mich auf englisch etwas fragte und ich nicht sofort, denn mein Englischunterricht in der Mittelschule hatte wohl erst vor einem Jahr begonnen, antworten konnte. „Ach ja, Biberach war ja von den Franzosen besetzt“, sagte er, und weil mir in jenem Augenblick das Franzosenwäldchen einfiel, nickte ich erleichtert, „dann kannst du noch kein Englisch.“ Meinte er damit, ich sei deswegen mit Französisch als zweiter Muttersprache (meine Mutter beherrschte keine Fremdsprachen) aufgewachsen? In diesem Moment aber erschloß sich mir das Wort „Franzosenwäldchen“ glaubhaft. Was der Sohn von Frau S. sagte, bewies mir nun den Zusammenhang zwischen den französischen Soldaten, dem Krieg und dem Wäldchen erst als richtig. Davor war das Franzosenwäldchen ein Ort eher unserer Jungenphantasien, die sich am Hörensagen bedient hatten, gewesen. Es war ein unbedeutender Hain zwischen den Feldern und Wiesen, die sich von der Nordseite des Lindele aus zum Burrenwald erstreckten Ich schreibe das in der Vergangenheitsform, denn eine große Fläche davon wurde seit der Mitte der sechziger Jahre bebaut. Steht das Franzosenwäldchen noch? Zu meiner Kinderzeit ging das Gerücht um, die abziehenden Franzosen hätten in ihm Waffen vergraben, Gewehre, Handgranaten, und das war für einen Neun- oder Zehnjährigen doch spannend. Mit Helmut K. und anderen Freunden strolchte ich dort ein paar Mal herum, streifte durch das Unterholz, durch die Baumwipfel fielen Sonnenstrahlenstreifen, wir suchten den verstrüppten Boden nach waffenähnlichem Kram ab, fanden, oh ja, auch Patronenhülsen, also war etwas dran an dem Gerücht; dachten wir. Vielleicht fanden wir auch noch anderes militärisches Material, verrottetes, zerbrochenes Kleinzeug, ein Koppelschloß oder Ähnliches. Für einige Tage eines Sommers brachte das Franzosenwäldchen unsere Phantasie auf Trab. Wir stellten uns vor, wie an diesem Wäldchen französische Reiter vorübertrabten, französische Jeeps vorbeifuhren; und nur wenige hundert Meter entfernt standen ja auch noch die Baracken des Lagers, von denen ich damals nicht wußte, daß es ein Gefangenenlager gewesen war, aber auf unausgesprochene Weise gehörten diese lang gestreckten niedrigen Gebäude zur ereignisreichen Landschaft, die sich am Lindele erstreckte, dazu, und auch zum Krieg, den es irgendwann einmal gegeben hatte. Das Lager kannte ich ja, in ihm besuchte ich in jener Zeit mit meiner Mutter unsere Verwandtschaft, die L.s, die Ende der fünfziger Jahre, über Zwischenstationen in Weinsberg und auf der Schwäbischen Alb, nach Biberach in diesem inzwischen als Notaufnahmequartier genutzten ehemaligen Kriegsgefangenenlager untergekommen war, bis sie in die neuen Wohnblocks am Mühlweg einziehen konnten. In den sechziger Jahren wurden die Baracken abgerissen – wurden sie doch? – und machten Platz für neue, größere Unterkünfte für die dort stationierte Abteilung der Bereitschaftspolizei. Ob in dem Sommer, in dem das Franzosenwäldchen interessant war, oder in dem danach – ich sehe wieder, wie ich ungeduldig, aber immer höflich auf die Verwandtschaft wartend, voranspazierte, wenn „Tante Emmi“ und ihre schon alten Eltern und meine Mutter, die sich unterhielten, langsam, sehr langsam, über die Kuppe des Lindeles gingen; wie es der Zufall arrangierte, hatten es die in Biberach neu Eingetroffenen zu unserer Wohnung – und weil es uns in Biberach gab, waren sie aus den polnisch verwalteten Gebieten Schlesiens nach Oberschwaben gekommen, denn in die DDR, wo Tante Emmis Bruder mit Familie lebte, wollten sie nicht – gar nicht weit. Sie mußten ja nur über’s Lindele und die Lindelestraße hinuntergehen. Wäre Hitlerdeutschland nicht untergegangen, hätte es auch sie nie nach Biberach verschlagen.
- Sehr warmer, sehr schöner Frühsommertag fast schon, mit vielen weißen
Kumuluswolken, die im Blauen schwammen.
8.5.2002
- Sehr warmer, sehr schöner Frühsommertag fast schon, mit vielen weißen
Kumuluswolken, die im Blauen schwammen.
8.5.2002
08.05.