2
Mai

2.5.2002

Kruse beendete seinen Zivildienst, er verschwand wieder aus meinem Gesichtskreis, aber nicht für immer, aber nicht aus der Stadt, was ich aber so dezidiert nicht behaupten möchte, denn ich weiß ja nicht, ob er in jener Zeit Biberach doch gelegentlich verließ. Manchmal, im Abstand von Jahren, standen wir danach, aufgrund der Kontingenz, die seine verschlängelte Lebenslinie an gewissen Punkten über meine legte und umgekehrt, in Kneipen und wechselten ein paar Worte, oder auch nicht, wenn jeder von uns mit anderen Leuten im Gespräch herumstand oder -saß, oder dann sah ich ihn, ohne daß es mir etwas bedeutet hätte, denn so gut kannten wir uns nie, irgendwo, sogar in kürzeren Zeitabständen, bedachtsamen Schrittes über eine Straße gehen. Er verkehrte in einer Szene, die nicht die meine war, in der nichterlaubte Substanzen ihre Auswirkungen über die Persönlichkeiten der User stülpten; zum letzten Mal begegneten wir uns im Herbst 1984 im „Tweety“, einer Jugendkneipe, die in jenem Jahr aufgemacht hatte, schräg gegenüber vom „Strauß“ in der Consulentengasse, den es als Gastwirtschaft noch gab, der aber seine Funktion als Soziotop in der Vergangenheit gelassen hatte. Wir unterhielten uns. Anfang der Neunziger hörte ich, er sei in Schweden an einer Herzkrankheit gestorben.
Kruse ging, Falk Chr. Burhenne kam. Ich glaube, wir kannten uns, als er seinen Zivildienst im Krankenhaus antrat, schon aus dem „Strauß“, wo er oben im zweiten Stock unter dem Dach eine der Kammern bewohnte. In einer von ihnen hauste inzwischen auch Manfred S., im Frühjahr 1973 noch Schüler des „Hauchler-Studios GmbH & Co“, einer international bekannten Privatschule für das Druckereigewerbe; um an ihr zu einer soliden Weiterbildung zum Reprofotografen zu kommen, hatte das Arbeitsamt Kassel ihn, der fünfundzwanzig war, ins oberschwäbische Städtchen, von dem ihm nicht einmal bekannt gewesen war, wo es lag, „irgendwo in Schwaben“, geschickt. Auch Falk hatte, allerdings ein Jahr davor, im „Hauchler“, wie diese Ausbildungsstätte mit angegliedertem Internat, in dem aber nur ein Teil der Schülerschaft unterkam, weshalb zusätzlich Zimmer in der Stadt von ihr belegt wurden, in der Großen Kreisstadt allgemein genannt wird (und zu dem auch damals schon Auszubildende aus eher vermögenden Kreisen aus Afrika und Asien kamen), eine Lernzeit über sich ergehen lassen, arbeitete aber danach nicht im Beruf, für den sie gedacht gewesen war; zunächst war ja auch einmal der Zivildienst zu bedenken. Er hatte aber generell andere Interessen. Falk, etwa so groß wie ich, kam aus Bonn, sein Vater, mit dem er nicht viel zu tun hatte, saß in einer der Regierungsstellen, oder einer Institution im Umkreis von solchen, an einem Schreibtisch, seine Mutter, in deren Wohnung er sich aufhielt, wenn er auf seinem 450er-Motorrad nach Bonn fuhr, malte. Er hatte lange blonde Haare, einen blonden Vollbart und die helle Haut der Blonden, die im Gesicht ins Rosafarbene spielen konnte. Ich fand ihn sympathisch, hatte aber keine erotischen Absichten. Im Lauf der Zeit wurde ihm klar, daß dieser neue Freund schwul war, weil er, im Gegensatz zu ihm, dessen Freundin damals die Comtesse von W.-W., sie wohnte auf einer Burg südöstlich von Biberach, eine zarte Blonde mit fein geschnittenem Gesicht, war, stets ohne weibliche Begleitung erschien und auch nie klagte, er würde keine finden, und er verlor nie ein Wort darüber. Wir hockten dann häufig zusammen. F. behagte der Krankenhausjob nicht, „Fäega! Fäega!“ war ihm nicht so angenehm; er kam unregelmäßiger zum Dienst, was die Verwaltungsverantwortlichen nicht erfreute, aber er hatte immer günstige Atteste von Ärzten, die ihn wegen chronischer Nebenhöhlenbeschwerden und Migräne – die er tatsächlich hatte – krank schrieben. So kurvte ich im Juni, Juli allein mit dem Säckekarren durch die Gänge, schob ihn in den Aufzug (neben dem Karren der zwei Meter lange matt glänzende Metallbehälter mit der gewölbten Oberschale, unter der ein Toter lag), zum Ofen. Der Vorfall, der Kruse widerfahren war, hatte mir drastisch gezeigt, wie ich ihn nicht bedienen sollte, und es geschah auch nichts mehr. Hin und wieder diente F. einige Tage ab, wir lagen auch, der Sommer begann, hinter dem Gebäudetrakt im Gras und rauchten oder wir standen oben auf der großen umlaufenden Dachterrasse des „Schwesternhochhauses“, des Hochhauses, in dem die Schwestern wohnten, prinzipiell von jungen Typen in der Stadt nur „GT“ genannt, Geiler Turm, und sahen über die Häuser. Der 31. Juli 1973 war mein letzter Tag im Zivildienst. Ich war frei.
- Den ganzen Tag über hielten sich die Wolken grau, obwohl nicht ohne Lücken, durch die hin und wieder ein Sonnenstrahl fallen konnte, über Berlin; dann zogen sie fort und die Abendsonne lächelte mild von Westen her.
2.5.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6807 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren