27
Apr

27.4.2002

Im Frühjahr oder Sommer 1974 klingelte es eines späten Vormittags bei uns in der Lindelestraße 2; ich sah aus dem Nordfenster meines Zimmers hinunter auf die Steintreppe, die zum Hauseingang, der steinern überbaut war (und ist), hinauf führte zur Tür, in die man eintrat, wenn man nach der Treppe sich nach rechts drehte oder im Hinaufgehen der wenigen hellgrauen Stufen, den Schlüssel schon in der Hand, fast unmerklich schräg auf die Tür zuhielt, so daß man nur die Füße ein wenig umstellen mußte, um, frontal vor der braunen Haustür dann, ohne daß einem diese Bewegungen bewußt geworden wären, weil sie so oft getan wurden, stehend den Schlüssel ins Schloß zu stecken. In den sechziger Jahren, als dieses Zimmer nicht bewohnt und die Abstellkammer gewesen war, hatte ich es dann betreten, und so war ich doch häufig hineingekommen, wenn bei uns geklingelt worden war und ich erst einmal hatte nachsehen wollen, wer da Einlaß begehrt hatte oder sich wenigstens hatte bemerkbar machen wollen, wie eben meine Freunde, Helmut vor allen anderen, aber auch die Besucherinnen und Besucher meiner Mutter, oder der Strommann war gekommen und hatte den Zähler ablesen wollen, oder der Postbote hatte ein Päckchen oder Paket gebracht, oder wer auch immer es gewesen sein mochte. Obwohl ich mir ja oft hatte denken können, daß H. vor der Tür gestanden hatte, war ich doch zunächst an dieses Fenster gegangen, um mich zu vergewissern und hatte erst dann den Weg die Innentreppe hinunter zur Haustür getan; entweder, um H. hereinzulassen, was gar nicht so oft vorgekommen war, oder, und dies war die Regel gewesen, die Wohnung zu verlassen, um mit ihm die paar Schritte um die Straßenecke zu seinem elterlichen Haus an der Probststraße zu gehen, wo wir uns entweder in der Wohnung aufgehalten oder im Garten mit Tischtennis oder etwas anderem uns den Nachmittag vertrieben hatten. Sofern ich nicht, und das war eigentlich am alltäglichsten gewesen, aus Gewohnheit und ohne Aufforderung hinüber gegangen war. An jenem Vormittag klingelte es, ich sah hinab, ich sah die Leiterin der Stadtbücherei, Frau Kr., dort stehen, ihr Gesicht, das sich dem Fenster entgegenreckte, denn um auf meine Frage von oben, „wer ist da?“, antworten zu können, allein um sehen zu können, wer da fragte, mußte sie dazu eine Stufe wieder hinabsteigen, und so, wie sie wie die meisten der Klingelnden, etwas verkrümmt, verdreht stehend stand, erkannte ich also die Büchereileiterin, die mit ihrer, ich drücke mich höflich aus, eindringlichen Stimme, die nicht jedermanns Ohr erfreute, sagte, daß sie mich sprechen wolle. Ich ging hinunter, öffnete die Tür, bat sie herein, aber sie wollte gar nicht mit hinauf in die Wohnung kommen, das, um was es gehe, weswegen sie gekommen sei, ließe sich ebenso gut auch sofort erledigen, kurz gesagt: ich solle ihr meinen Leserausweis abgeben, hier, auf der Treppe, auf deren unteren Stufen wir standen, die Zwischentür stand offen, denn wie ich schließlich wüßte, hätte ich die Mahngebühren, nach dreimaliger Aufforderung, nicht bezahlt, und so gehe es wirklich nicht, nun müsse sie den Ausweis zurückfordern. Ich war doch etwas überrascht, daß sie sich den Weg von der Innenstadt hinauf in die Lindelestraße gemacht hatte, nur um mir diesen Leserausweis abzuknöpfen. Ich entschuldigte mich, daß ich nicht bezahlt hatte, mit Worten, die für solche Zwischenfälle parat liegen, ging hinauf in mein Zimmer, während diese Büchereileiterin, die Haare auf den Zähnen haben konnte, wie ich, aus stiller Beobachtung auch in ihrer Bücherei, schon gewußt hatte, auf der Treppe ausharrte, bis ich zurückkam und ihr wortlos den so kostbaren Leserausweis, den weiterhin zu besitzen ich aber wirklich so etwas wie nicht würdig war, daß sie höchstpersönlich die Mühe hatte auf sich nehmen müssen, ihn mir kategorisch zu entreißen. Ich fand, als sie das Haus, „Auf Wiedersehen!“, verlassen hatte, die Szene irgendwie eigenartig; aber dann kam mir der Gedanke, daß sie es eigenartig gefunden haben mußte, daß ich so gar keine Anstalten gemacht hatte, meine Mahngebühren zu bezahlen oder in der Bücherei ein Wort nur darüber zu verlieren; daß ich die Sache mit unerklärlicher Gleichgültigkeit betrachtet hatte – gegen solch einen Büchereibenutzer halfen offenbar nur härtere Maßnahmen; der persönliche Einsatz. Ich war amüsiert.
- Dunkle Wolken jagten über die Stadt, vormittags und am Mittag, vom heftigen Wind weitergetrieben, sodaß immer wieder helles Sonnenlicht dazwischen fiel, bis der heutige Wolkenvorrat verbraucht war und bis zur Dämmerung freundliches Sonnenwetter blieb. Vormittags schaukelte der kräftige Wind die ausgebleichte Hängematte mit den rosa und grauen Streifen, die zwischen zwei der kleinen Bäume im Hinterhof gespannt ist, auf und nieder, beulte sie aus, strich sie wieder straff.
27.4.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6809 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren