24
Apr

24.4.2002

Im Jahr 1972 stand in beiden deutschen Staaten der Kalte Krieg in nicht mehr ganz so voller Blüte. Den Kalten Kriegern der BRD, die keine warmen Brüder sein wollten, war aber eben das ein Dorn im Fleische, sozusagen. Willy Brandt, der seit 1969 Kanzler war, hatte mit seiner Neuen Ostpolitik, unter die die Deutschlandpolitik rubriziert war, gegenüber DDR und Sowjetunion, welche die damalige politische Weltrealität zumindest anerkannte, die Wut nicht nur der parlamentarischen Rechten, deren nicht einmal übelster Protagonist der CDU-Fraktionsvorsitzende Dr. Barzel war, herausgefordert. Auch rechte SPD- und FDP-Abgeordnete waren mit dem Kurs von Brandt und Bahr nicht einverstanden, sprangen hurtig zu den Bänken der CDU hinüber. Die Mehrheit der ersten sozialliberalen Koalition schwand dahin, die Opposition beantragte ein Konstruktives Mißtrauensvotum gegen den Kanzler, am 24. April 1972. „Brandt muß weg!“, lautete die haßerfüllte Absicht. Auch im Bund der Vertriebenen des Kreises Biberach dachte man so, wie ich mich gut erinnere. Brandt sollte gestürzt, Barzel Kanzler werden. Die Umfragen im Bürgervolk zeigten, daß die Sympathie des Wahlvolks bei Brandts Politik lagen. Bei der Abstimmung am 27. April hätte dieser Versuch, die veränderte Politik gegenüber „Pankow“ und „Moskau“ zu stoppen, 249 Abgeordnetenstimmen auf seiner Seite haben müssen. Es kamen 247 zusammen. Dr. Rainer Candidus Barzel hatte eine Niederlage erlitten, der Kandidat hatte zwei Punkte zu wenig. Die CDU, die sich des Ausgangs der Abstimmung zu ihren Gunsten sicher gewesen war, konnte es kaum fassen: zwei Verräter in ihren Reihen hatte sie! Das Verfassungsinstrument des Konstruktiven Mißtrauensantrags war zum ersten Mal überhaupt im Deutschen Bundestag angewandt worden und hatte schon gefloppt. Der „Barzel-Putsch“, wie der Vorgang nicht nur von denen, die für Brandt auf die Straße gegangen und in Warnstreiks getreten waren (das gab es damals noch!), genannt wurde, war gescheitert, am 17. Mai 1972 wurden, nach einigem Hin und Her, zwischen den Parteien und den Regierungen der BRD, DDR, UdSSR, das zwischen beiden Terminen noch einige politische Rangiermanöver erforderlich machte, die Ostverträge im Bundestag ratifiziert. Die Bundesrepublik Deutschland hatte sich in der Welt neu verortet.
Das alles las ich in meinen Zeitungen während der Bundeswehrzeit, aber die dort alltäglich werdenden Beanspruchungen überlagerten das Interesse an diesen Schach- und Winkelzügen der BRD-deutschen Politik. Außerdem konnte mir wurscht sein, welche der bürgerlichen Parteien, zu denen selbstredend die SPD dazugehörte, den imperialistischen Klassenstaat im Auftrag des Großkapitals regierte; auch für die SPD hatte ich nichts übrig. „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ – an diesen hübschen, wiewohl nicht besonders elaborierten Reim denke ich zuweilen, wenn ich in der Halle der U-Bahn-Station am Rosa-Luxemburg-Platz, gar nicht sehr weit von diesem Schreibtisch entfernt, auf den nächsten Zug warte und die collagenartig angebrachten Wandillustrationen, die Szenen aus der Novemberrevolution 1918 schildern, betrachte, und mir aus der Alltäglichkeit, in der sich für mich schon dieser Ort, dieser Platz, befindet, heraus plötzlich bewußt wird, wer diesem Platz seinen Namen verlieh. Brandt hatte bei mir wegen seines Kniefalls im ehemaligen Warschauer Ghetto, 1970, einen bescheidenen Bonus. Den er wieder verspielte, als er, der Demokratiewager, den Radikalenerlaß verkündete. Diesen Erlaß hoben sie dann auch wieder auf; als ihnen die Revolutions- und Indoktrinationsgefahr gebannt schien; nach all den Idiotien, die RAF und Rote Zellen angerichtet hatten, die die linke Politik, die eine solche Charakterisierung noch verdiente, vollkommen desavouierten. Aber die Ereignisse des Frühjahrs 1972 führten zu einem Patt im Bundestag, Neuwahlen wurden angestrebt, am 20. September stellte Brandt die Vertrauensfrage. Die Mehrheit der Abgeordneten verweigerten ihr Vertrauen, die Mannschaft der Regierungskoalition war der Abstimmung fern geblieben. Der Bundestag wurde aufgelöst, am 19. November 1972 wurde gewählt, mit 91 Prozent Wahlbeteiligung. (Das gab’s nur einmal, das kommt nicht wieder.) Diese hohe Wahlbeteilung führte sich auf den hochemotionalen Wahlkampf zurück, der die Gemüter bewegt hatte. „Willy Brandt muß Kanzler bleiben!“ So kam’s ja dann auch, 45,8 Prozent für die SPD; damit wurde sie zum ersten Mal die stärkste Fraktion im Bundestag. Eine neue Ära, die siebziger Jahre der sozialliberalen Koalition, hatte begonnen.
- „Bedeckt“, wie’s in der Wettervorhersage heißt; man erwartet immer, daß es regnen würde, aber es regnete nicht.
24.4.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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