16
Apr

16.4.2002

Gestern ist auch der Todestag von Sartre und Genet gewesen. Sartre starb 1980, Genet 1986. – Sartre las ich im Sommer nach dem Abitur, 1971. Aus einem Grund, der in einer Diskussion im Deutschunterricht gelegen hatte, war der Versuch unternommen worden, im letzten Schuljahr einen freiwilligen außerschulischen Arbeitskreis für die Sartre-Lektüre einzurichten, der jedoch nach zwei Treffen, für die wir uns im „Rebstock“ an der Consulentengasse eingefunden hatten, abgebrochen worden war. Der zu bewältigende Schulstoff und das herannahende Abitur hatten den drei oder vier Mitschülern – Hildegard ist als Mitschülerin in diesem Kreis schon mitgezählt, mein Nebensitzer Willi F. war auch dabei – dieses anstrengende Zusatzlesen als nicht zu schaffen erscheinen lassen. Ich nehme an, ich war dann der einzige, der nach dem Ende der Schuljahre doch zu Sartre griff, allerdings nicht zum philosophischen Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“, nur zu den Stücken. Nun fällt mir ein, daß Willi F. es gewesen war, der ein besonderes Interesse an diesem philosophischen Großtext geäußert hatte, warum auch immer, und das der Grund für den Versuch einer gemeinschaftlichen Lektüre gewesen sein dürfte. Ob er in der Zeit nach der Schule zu Sartre griff, ist mir nicht bekannt. Wir trafen uns in diesen Jahren zwischen 1971 und 1982 nur sehr selten, im Abstand von einigen Jahren, jeweils; ich hatte die eigene Beschäftigung mit S. schon längst vergessen. Als wir uns dann im Sommer 1982 begegneten und uns in der im Untergeschoß des Gebäudes befindlichen Diskothek „Take Five“ an der Schrannenstraße, die es seit Jahren nicht mehr gibt, über das, das uns seit der letzten Plauderei widerfahren war, unterhielten (er war schon jahrelang im Schuldienst), sagte ich ihm, in alkoholisierter Euphorie, mir würden die Knie vor Erregung zittern, wenn ich meinen Lover sähe (Till), und er verzog etwas indigniert das Gesicht. Er fand es womöglich nicht angebracht, überhaupt solche Schwulitäten und dann auf solche Weise, die doch sehr harmlos war, zu erzählen. Es wäre ihm wahrscheinlich lieber gewesen, er hätte nichts davon erfahren. Da hatte er also drei Jahre lang neben einem Schwulen gesessen und nichts gewußt. Hatte diese späte Erkenntnis ihn gestört? Jedenfalls sah ich ihn nie wieder, und wir hatten ein gutes Verhältnis zueinander gehabt.
Im Sommer 1971 saß ich im Garten vor dem Lindelestraßenhaus, auf der quadratischen Rasenfläche, die zwischen den Beeten vor dem Haus und den sie umlaufenden schmalen Wegen auf der einen Seite und den Himbeersträuchern vor dem Gartenzaun auf der anderen von meiner Mutter Ende der fünfziger Jahre angelegt worden war, auf der ein nicht sehr hoher Obstbaum Schatten warf. Dieses Rasenstück gehörte zu unserem Teil am Garten, zu dem, den meine Mutter und ich benutzen durften, wie es mit dem Hausbesitzer S. und den Mietern im Hochparterre abgesprochen war. Wir hatten ein paar Gartenmöbel im Stil der Zeit, eine Liege, Sessel mit roten und blauen Plastiksträngen als Sitz- und Lehnflächen zwischen dem weißen Rohrgestänge, dazu ein zusammenklappbares Tischchen mit einer Resopalplatte. In einem dieser Sessel saß ich, das Tischchen vor mir aufgebaut, auf ihm stand eine gut gekühlte Flasche Bier. Die Sonne schien. Ich trug eine dünne weiße Tenniskappe mit einem schmalen grünlichen Schirm auf dem langhaarigen Kopf. Das Sartre-Buch, das ich las, mit allen Stücken darin, hatte ich mir in der Stadtbücherei ausgeliehen. Es war dick. In der Ausleihfrist von vier Wochen war ich durch. Sartres Begriff der „engagierten Literatur“ stand damals, in der APO-Zeit und danach, hoch im Kurs. Auch ich zählte mich schon, obwohl erst ein paar Beginnertexte in der Schublade lagen, zu den „engagierten Schriftstellern“. Dabei war das, was ich schrieb, keinesfalls linksengagiert, in dieser „Prosa“, in den Rezensionen sah es anders aus, sondern von experimentell-surrealistischer Literatur beeinflußt. Und ich versuchte mich an Science Fiction-Stories, experimentell aufgeblasen. Sehr viel entstand, weder vom einen noch vom anderen, nicht. Erst in den ein und zwei Jahren danach begann auch ich, die Parteilichkeit der Literatur einzufordern. Für die Science Fiction Times verfaßte ich einen ungemein kämpferisch-überzeugten Aufsatz, in dem ich diese "Position“ hart marxistisch-orthodox, dem Sozialistischen Realismus verpflichtet, verfocht und alles Experimentelle, das besonders, zum bürgerlichen Schund warf. Sogar Maos Große Proletarische Kulturrevolution erwähnte ich, Unwissender, lobend. Daran mag ich nicht denken, auf solche Fehler bin ich nicht stolz. (Diesen Aufsatz schrieb ich, es kann sein, 1971? Ich hielt mich nicht an die eigenen Maximen.) Nach diesem Sommer interessierte S. mich nicht mehr. Seine Philosophie, den Existentialismus, hielt ich für bürgerlich, trug aber, im „Strauß“ und anderswo, einen schwarzen Rollkragenpulli; so wie heute. Später verkaufte S. „La Cause du Peuple“, die maoistische Sektiererzeitung, auf den Straßen von Paris. Das war mir verdächtig. Aber zu dieser Zeit war ich nicht mehr linksengagiert, beobachtete freilich diese Szene weiter. Ich hielt nie etwas von den westlichen Maoisten; da die meisten von ihnen nicht viel später, in Frankreich am offensichtlichsten, zu Renegaten und zur Rechten hinübermutierten, einige sogar die „Nouvelle Droite“ bildeten, die mit demselben Furor, mit dem ihnen zuvor nichts zu links sein konnte, alles Linke und den Marxismus insbesondere verdammten und „überwanden“, hatte ich mal wieder recht bekommen. Als S. am 15. April 1980 gestorben war, diskutierte ich das im „Alten Haus“ in Biberach, der Kneipe, die ab 1977 nach dem „Strauß“ mein Stammlokal geworden war, mit Thomas G., einem meiner Freunde, der in Sartres Philosophie nicht so bewandert, aber von seiner zweifellos bedeutenden Persönlichkeit und Ausstrahlung, noch einmal durch seinen Besuch bei den RAF-Häftlingen in Stammheim aufgefrischt, fasziniert war. Und viele folgten ja auch dem Sarg.
- Ein eher grau zu nennender Tag; die Wolkenschicht probierte delikate Abtönungen von Grau über den Straßenkerben aus.
16.4.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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