15
Apr

15.4.2002

Ausgerechnet an Musils Todestag habe ich befürchten müssen, daß sein Roman mich heute nicht inspirieren würde, aber dann bin ich doch tatsächlich zu Beginn des Kapitels 114 auf sein Wort vom „Seelenplunder“ gestoßen, das hat schon einen schwachen Impuls gegeben; dazu kam, daß Musil die Zeitbestimmung “Siebzigerjahre“ damals so schrieb, wie sie seit der verstümperten und auch gar nicht notwendig gewesenen Rechtschreibreform – die, wenn überhaupt etwas, dann eine Deformation der deutschen Sprache ist, an der inzwischen selbst ihre Einpeitscher, uneinsichtig zwar, aber vom Desinteresse des schreibenden Volkes, wenn ich das so schreiben darf, ohne dabei auf eine eher unangebrachte Nebenbedeutung in Sachen „Volk der Dichter und Denker“ geschielt haben zu wollen, zu einlenkenden Maßnahmen, durch die Macht des faktischen Nichtgebrauchs, veranlaßt, verbissen-vergrätzt rückbauend wirkeln – zu schreiben sein soll; das kann mich fast davon überzeugen, „Siebzigerjahre“ statt, wie auch in diesem Text bisher vorgekommen, „siebziger Jahre“ für angebracht zu halten. Aber ich werde mir das noch überlegen. Sollten also in den weiterführenden Abschnitten „Sechziger-, Siebziger-, Achtziger-“, wohl auch noch „Fünfziger-, Neunzigerjahre“ nicht zu vergessen angezapft werden, statt „sechziger Jahre“ etc., dann aus diesem Grund. Und dieses eventuelle Vorhaben bedenkend, hat nun schon diese Zeilen hervorgebracht. Und wenn mir gerade heute nichts eingefallen wäre, und ist mir denn bis zu diesen Wörtern schon etwas eingefallen, was meine Erzählung weitergeführt hätte, sind denn diese Wörter nicht nur so, in Verlegenheit wichtigerer, aus dem Kopf heraus gefallen? – wäre das dann nicht auch bezeichnend, wenn einem am Todestag eines solchen Schriftstellers die Worte fehlen würden? Man borgt sich ja immer so vieles von anderen (Schriftstellern) und würfelt ein wenig mit den Wörtern, die andere längst benutzten, herum, wirft sie dann auf’s Papier und ist dann doch erstaunt darüber, daß sie auch noch etwas von einem selbst, von meinem Selbst in diesem Fall, im Fall der von mir ausgeliehenen Würfelwörter, sagen können; wenn jemand – ich benutze dieses unbestimmende Wort, um bestimmte Geschlechtlichkeit zu vermeiden – es versteht, diese stummen Krakel auf Papier und Glasflächen, mit seinen Gedanken verbunden, in sie hereingeholt, zum stummen Sprechen zu bringen. Ich habe mich heute eigentlich noch mit dem gestrigen Gedankenzug befassen wollen, mit Sex und allem, was Sie schon immer von meinem nicht wissen wollten, weil Sie nichts von mir wußten, in Tagen, in denen Sie das hier nicht in der Hand hielten, und auch meine Freunde und Bekannten sollten sich nicht einbilden, sie kennten mich so gut, daß ich sie damit nicht auch meinen würde; nun, nachdem ich klargestellt habe, daß das Erotische in meinem Leben zu kurz kam und demzufolge in dieser Ansammlung von Zeilen, die Sie unverständlicherweise noch immer lesen, mit falschen Hoffnungen – ich warne Sie! –, nicht den Stellenwert einnehmen kann, der mit einiger Berechtigung zu erwarten gewesen wäre, erst recht nicht mehr wollen. Aber ich werde mich noch etwas darüber ausjammern, und wenn ich Sie dann damit ein bißchen befriedigen kann – bitte sehr. Heute ist aber nicht der Tag dafür. Heute vor sechzig Jahren starb Robert Musil an einem Hirnschlag. Ich zitiere Franz Bleis Text, der auf dem Literaturkalenderblatt dieser Woche steht.
„Heute, wo man geneigt ist, in einem erfolgreichen Versammlungsredener einen Gottgesandten und Mystiker zu erblicken und entsprechend zu verehren, ist die Intelligenz etwas durchgefallen und gilt nicht viel. Man hält weit mehr von der Inspiration, ohne zu bedenken, daß man auch falsch inspiriert sein kann, wie nicht nur der Umstand der vielen schlechten Gedichte zeigt. Solcher Zeitneigung ist Musil „viel zu intelligent“, zumal „für einen Künstler“, dessen Wesentliches nach solcher Zeitmode eine qualifizierte Dummheit zu sein scheint, was ja auch in der Anerkennung Hauptmanns als repräsentativen Dichters dieser Zeit seinen Ausdruck findet. Aber eben deshalb, weil die Intelligenz nicht ein ganz hinreichendes Instrument der Erkenntnis ist, gerade deshalb, müssen wir sie gebrauchen als die einzige Fähigkeit, die wir besitzen und der jene Vernunft eigentümlich ist, abzudanken vor anderen Kräften, deren Mitarbeiterin sie wird. Die Intelligenz ist das alleinige Maß der Tiefe, die an sich keine Dimension ist. Aber die Tiefe, theoretisch unendlich, wird erst ein Wert durch das Licht der Intelligenz. Tiefe ist: bis wohin das Licht reicht.“ (Franz Blei, Robert Musil, 1940, in: Literaturkalender 2002, 35. Jahrgang, Aufbau-Verlag GmbH Berlin, 2001)
- Regen. Noch immer spätwinterlich kalt.
15.4.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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