13.4.2002
Ich hatte drei Jugendfreunde, die das Wort verdienten; alle anderen waren zweite Reihe. Helmut K., Heinz-Wolfgang B., Tilmann F. In dieser Reihenfolge der Bedeutsamkeit; ab jetzt schreibe ich ihre Vornamen aus. Warum sie in der Anonymität der Initialen lassen? In meinem Leben waren sie nicht anonym. Auch schwule Männer hatten in ihrer Jugend Freunde, die nichts dafür konnten, daß ihr Freund, eines schönen Tages, schwul war, und der Tag, an dem mir das klar war, war nicht schöner oder häßlicher als alle anderen, denn nichts Dramatisches hatte sich ereignet, in der Gedankenwelt nicht und in der, die das umgebende Leben ist, erst recht nicht, denn für Jahre wußte das doch keiner; und auch meine Freunde nicht, diese beiden nicht (denn Tilmann war noch ein Freund der Kinderzeit gewesen) und die anderen nicht, von denen es nur sehr wenige gab und die in meiner Jugend keine wichtigen Rollen spielten. Das blieb alles schön bei mir. Und es stellte überhaupt keine Schwierigkeit dar, diese Selbsterkenntnis für sich zu behalten. Ich war nie der Typ, dem der Mund überfloß. Eines Tages, oder, das schildert diesen sehr langsamen, sogar kaum bewußt vollzogenen Gefühlsbildungsprozeß und die damit einhergehende Weltbetrachtung genauer, stellte ich mit einer Selbstverständlichkeit, die solche Feststellungen häufig an sich haben, fest: „Du magst Jungs.“ Das erstaunte mich nicht im geringsten, beunruhigte mich in keiner Weise. Nie unternahm ich einen Versuch, eine Anstrengung, diese Formierung der Gefühle zu verdrängen oder zu verleugnen; mir selbst gegenüber nie, und anderen gegenüber nur einmal: Meinem Freund Heinz-Wolfgang, „Lupo“ von seinen Angehörigen gerufen, wie ich es oft aus dem Garten nebenan hörte, gegenüber, als er mir einmal, im Hinabgehen der Treppe von der Wohnung im Lindelestraßenhaus, sagte: „Du kuckst ja so komisch.“ Da sagte ich kühl, und das war eine Reaktion, die zu denen, die man eine automatische nennt, gehörte, ohne es eigentlich nötig gehabt zu haben, das zu sagen: „Ich bin nicht schwul.“ Und ich war etwas erstaunt darüber, warum er das gesagt hatte, denn ich war mir keines „Fehlers“ bewußt, und scharf auf ihn war ich sowieso nie gewesen. Auf Helmut übrigens ebenso wenig. Nicht einmal pubertäre Spielchen gab’s. Was waren wir für brave Jungs. Aber ich sagte das und ärgerte mich sofort darüber. Nicht weil ich gefürchtet hätte, Heinz-Wolfgang würde nun annehmen können, daß sein Anfangsverdacht vielleicht doch seine Berechtigung gehabt haben könnte, das war mir egal, sondern eben wegen dieser Reflexantwort, deren Bedeutung für mein Innenleben mir schon in den zwei Sekunden des Aussprechens der vier Wörter bewußt wurde. Ich hatte es nicht gut genug unter Kontrolle, und dieses „es“ in mir wollte eventuell, daß ich einmal von ihm, diesem Etwas, ein wenig hinauslasse. Heinz-Wolfgang kam danach nie auf diesen Augenblick in meinem siebzehnten Jahr zu sprechen. Ich war auch ärgerlich, weil ich ihn angelogen hatte, was in all den Jahren, in denen wir befreundet waren, davor und danach, nie vorgekommen war. Damals, 1968, 1969, war die Zeit der Schwulenemanzipation noch nicht gekommen, in der unsereins so mir nichts dir nichts hätte zugeben können, gleichgeschlechtlich „veranlagt“ zu sein. Und ein Geschlechtsleben hatte ich, mit der Ausnahme der autoerotischen Betätigung, nicht. Die sexuelle Revolution war zwar im Anmarsch, so richtig erreicht hatte diese Umwälzung mich aber nie. Ich verhielt mich als Gymnasiast völlig normal; zu normal, zu desinteressiert an den fleischlichen Gelüsten, denen heterosexuelle Jugendliche sehr wohl erlagen. Ich hatte keine Lust, im wörtlichen Sinn, mich mit Problemen, die sich aus den in einer kleinbürgerlich-konservativen Umgebung als abnormal geltenden Lüsten zwangsläufig, wie mir klar war, ergeben hätten, herumzuplagen; so stark war mein Sexualtrieb nicht, daß das unbedingt hätte riskiert werden müssen. In sexuellen Angelegenheiten war ich stets viel vorsichtiger als in politischen, das ist mir (leider) geblieben. Ich war sehr vernünftig, wollte unangenehme Erklärungen, natürlich zunächst meiner nervenkranken Mutter gegenüber, erst einmal noch nicht abgeben. Und andere hatte das nichts anzugehen. Ich wollte ernst genommen werden, auch meiner sich allmählich herausbildenden linken Ansichten zuliebe. Einige Jahre danach waren die Verhältnisse schon andere. Ende der Sechziger jedoch wurden mir auch aus diesen Gründen, Gründen des Stolzes auch, der Situationen einer möglichen Demütigung gar nicht erst zuließ, die beschränkten Umstände eines Kleinstadtlebens deutlicher. Damals litt ich nie an unerfüllten Sehnsüchten. Das kam später. Die ganze Sexualität oder Libido, in meinem Fall die schwule, hatte nahezu unbemerkt die unteren Etagen des Gedanken- und Gefühlshaushalts bezogen und sich im Lauf der Zeit dort eingerichtet, eine Hausbewohnerin, die sich unscheinbar gab, dennoch etwas ungewöhnlich war, noch – noch – nicht störte, sich ruhig verhielt, bei gelegentlichen Begegnungen aber zu verstehen geben konnte, daß ihr die Rechte, die ihr gestatteten, hier auf Lebenszeit bleiben zu können, gut bewußt waren. Sie zeigte sich in den beiden letzten Schuljahren manchmal in der Schule, sehr zaghaft, als einer meiner Mitschüler, ein netter, fröhlicher, um ein Jahr Jüngerer, mein verborgenes Interesse auf sich zog, von dem er nie erfuhr.
- Das Wetter ist vom Grauen voll.
13.4.2002
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13.4.2002
13.04.