11
Apr

11.4.2002

Den ganzen Tag über habe ich auf die richtige Minute, in der ich zu schreiben beginnen würde, gewartet. Vorhin, nach achtzehn Uhr, habe ich den „Mann ohne Eigenschaften“ wieder zur Hand genommen, in dem ich seit einigen Tagen, seit der Seite 545, nur wenige Zeilen voran las. In diesen Tagen hat das Buch, wie seit Monaten, immer aufgeschlagen auf dem kleinen Tisch gelegen, und ich habe es höchstens ein paar Mal etwas hin- und hergeschoben, um Platz beispielsweise für das Telefon zu machen, das ich mir zum Telefonieren vom großen Tisch an der Wand gern auf das Tischchen hole, um bequem im Chefsessel sitzend plaudern zu können. Als hätte ich gewußt, daß mich das Weiterlesen sofort im Schreiben fortfahren lassen würde, habe ich es mir aufgespart für heute, denn ich habe nicht an den Schilderungen meiner Bundeswehrzeit weiter schreiben wollen, vorerst; ich habe zwar schon zu einer Fortsetzung des Gestrigen angesetzt – „Ein Jahr später schob ich schon seit zwei Monaten Tag für Tag einen länglichen Karren mit tiefer Ladefläche“ –, jedoch ein Szenenwechsel scheint mir heute angebracht zu sein, auch, um mir das eine oder andere Anekdötchen klarer werden zu lassen. Prinzipiell will ich mich aber bei den Berichten über jene Monate nicht allzu lange aufhalten. Ich habe mich also vorhin wieder in die Überlegungen Paul Arnheims, des Großindustriellen in Musils Roman, im Kapitel 112 eingeklinkt und dann auf Seite 548 festgestellt, daß dort steht: „Dieser Mann [gemeint ist der Protagonist Ulrich] besaß noch unverbrauchte Seele: da es sich um eine intuitive Eingebung handelte, hätte Arnheim nicht genau angeben können, was er damit meinte; aber irgendwie war es so, daß jeder Mensch, wie er wußte, seine Seele mit der Zeit in Verstand, Moral und große Ideen auflöst, was ein unwiderruflicher Vorgang ist; und bei seinem Freundfeind war der nicht bis zu Ende geraten, sodaß etwas übrig blieb, dessen zweideutigen Reiz man nicht recht bezeichnen konnte, aber daran erkannte, daß dieses Etwas ungewöhnliche Verbindungen mit Elementen aus der Sphäre des Seelenlosen, Rationalen und Mechanischen einging, die sich nicht mehr recht zu den Kulturinhalten zählen ließen.“ Dies zu lesen hat mich vorhin gefreut und nun zu flüchtigen Grübeleien über den von mir skizzierten Begriff des „Seelenfortschritts“ (den ich gar nicht mehr bemühen wollte) veranlaßt. Mich erfreut im Augenblick das Zusammenspiel der intuitiven Vorgänge; der in meinem Kopf und im Manuskriptabschnitt am 4. April und der im Kopf von Arnheim auf Seite 548 des Buches, ein Zusammentreffen von zwei Ausgestaltungen derselben Gedankenbildungsart, sozusagen die Überlagerung dieser Gedankenbildungsart durch sich selbst in einer etwa zweiundsiebzig Jahre alten Ausgestaltung; wenn auch, besieht man sich die Inhalte dieser Ausgestaltungen, nicht unbedingt deckungsgleich. Man könnte ja untersuchen, wenn es denn dieser Nebenbeibemühung lohnte, ob sich Arnheims Ansicht, die Seele löse sich in jedem Menschen in die Faktoren Verstand, Moral und große Ideen auf, wobei, obwohl ihm dies so explizit nicht einfällt, anzunehmen wäre, die Seele existiere dann eben in diesen Bestandteilen weiter, mit dem Begriff des Seelenfortschritts zusammenbringen ließe; denn gerade weil die Seele, so wie sie dieser Großkaufmann und -schriftsteller offenbar für gegeben hält, in jene Teilmengen zerfällt, und man kann sich noch eine andere, die Erinnerung, die größte eigentlich, die die anderen umfaßt und in sich aufnimmt, wiederum, wenn man den Vorgang genau betrachtet, denken, entwickelt sie, in diese Partikel separiert und transformiert, wieder Anschubkräfte, die den Menschen, der sie in sich trägt, auf seinem ungewissen Weg ein Stückchen weiter nach vorn schieben. Sollte hier ein Fragezeichen gesetzt werden? Verstand, Moral, große Ideen sind ja geblieben und dürften, so ist zu vermuten, gewisse Wirkungen hervorrufen, nur eben nicht als die ungeteilte Einheit, die sie als Seele waren. Wobei uns Musil auf dieser Seite, zu dieser Stunde in Arnheims Leben, nicht verrät oder andeutet, was diese Auflösung der Seele verursacht; Präsens hier, sofern dieses Ereignis noch heute in den Menschen stattfindet. Aber es sei ja, wie Arnheim überlegt, ein aktiver Akt, jeder Mensch löse seine Seele in die genannten Bestandteile auf; so wäre zusätzlich zu fragen, warum er das überhaupt tut, aus Laune oder Notwendigkeit. Im Augenblick würde das aber noch weiter nebenan führen. Es wäre, dies doch, auch zu ergründen, ob die Seele in solcher Faktorengestalt nicht besser zu steuern wäre (vielleicht ist das einer der Gründe für das aktive Auflösung der Seele). Ersetzen wir die Faktoren durch Vektoren, so wird uns diese Überlegung vielleicht eingängiger. Mit einer kompakten, ganzen Seele käme ihr Träger unbeholfener durch’s Leben? An dieser Stelle könnten wir uns doch eine Ankopplung mit dem „Seelenfortschritt“ vorstellen; oder nicht? Seelenfortschritt sei Bewußtsein, das sich durch die Anreicherung mit den nicht ganz erklärlichen Elementen – Arnheims „Elementen“, Ulrichs „Elementen“, um korrekt zu sein, wird ein toter, bloß mechanischer, eben seelenloser Zustand bescheinigt – der Non-Rationalität, wie Ahnen, verschüttete Gefühle, Glückserwartung, Intuition und andere, erweitern würde, war die Hypothese auf einer der Seiten vor dieser. Die Beschäftigung mit den Bestandteilen der zerlegten, nicht völlig „aufgelösten“ Seele brachte die Erinnerung als einen möglichen dieser Faktoren oder Vektoren in die Erörterung; inzwischen könnte es fast so sein, als sei sie das wichtigste von diesen Einzelteilen, das alle anderen in sich aufnimmt, wo sie ein Gerangel um den besten Platz veranstalten, und eben dieses Gerangel in der Erinnerung, diese Energie, treibt den Menschen um und verhilft ihm zu neuen Handlungen und Taten oder sogar Unterlassungen, weniger Bereicherungen, par example. Eine so fortgeschrittene Seele, somit fortschrittliche, dürfte dann jederzeit den Anspruch für sich erheben, ein erweitertes und verändertes Bewußtsein zu sein. Seelenfortschritt, wenn wir darunter eine sich erweiternde Veränderung eines Bewußtseins annehmen wollen, wird, um abschließend zu konklusieren, scheinbar wesentlich von der Erinnerungskraft begünstigt, die wir aufgrund des Vorigen als eine Teilkraft der sich auflösenden Kompaktseele verstehen dürfen, in der sich die anderen Kräfte wie Verstand, Moral, große Ideen verfangen und bekämpfen, woraus eine neue Gesamtkraft erzeugt wird, die, neueste kosmologische Denkmodelle könnten hier als Analogie hinzugezogen werden, eventuell eine neue, erweiterte, veränderte Gesamtseele hervorzubringen imstande wäre. Erinnerung bewirkt Seelenfortschritt.
Es ist doch bemerkenswert, wie der Unterscheid zwischen gelesenem und gelebtem Leben im Lesen des selbst aufgeschriebenen eigenen Lebens eingeebnet wird, und schon sind wir auf der planen Fläche, auf der sich die Fiktion mit der Wirklichkeit (aber welcher), irrlichternd einander umspielend, verspiegelt; sogar im Aus- und Verrutschen.
- Wie ein alter grauer Topfdeckel lastete die Wolkenschicht auf der kalt brodelnden Stadt. Dann gleißte über den Dachfirsten die Abendsonnenhelligkeit als ein großer Fleck auf, aus dem eine Atmosphärenlandschaft aus zartem Blau und eilenden Kumulus- und Zyrrhuswolken wurde.
11.4.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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