10
Apr

10.4.2002

Ich war nicht der einzige, der nach Weiden verlegt wurde. Ein paar andere Burschen aus der 2. Kompanie sprangen mit mir vom Lastwagen, als der im Innenhof dieser Kaserne gehalten hatte. Sie hieß „Ostmark-Kaserne“, wie in Adolfs Zeiten, das stieß mir schon mal unangenehm auf. Hier war die Demokratie der BRD noch nicht angekommen, schon gar nicht in der Truppe, das sah man auf einen Blick, der an den alten Gemäuern entlang streifte und die Visagen der Uffze und Stuffze (Stabsunteroffiziere) und Leutnants prüfte. „Ostmark“ – so hieß im Nazireich das alte Kakanien.
Wir stellten uns in der gewünschten Linie auf, die Dienstgrade bauten sich vor uns auf, darunter ein fetter Oberst mit Schweinsäuglein im geröteten Gesicht, der in meine Gedanken als „Schweinchen Dick“ Einzug hielt.
„Sie, Sie, Sie und Sie gehen zum Frisör! Sie haben bis siebzehn Uhr Zeit dafür!“
Ein unfreundliches Willkommen. Die anderen Langhaarigen waren nach dem „Wegtreten!“ ebenso wenig erfreut wie ich; zumal mit dem Frisör der in der Kaserne und keineswegs einer vor den Toren derselben, in einem eventuell etwas verstaubten Lädelchen an einer der unbekannten Straßen des Provinznests gemeint war, und wir uns vorstellen konnten, wie dieser Soldatenfrisör mit unserem gepflegten Haupthaar verfahren würde. Überhaupt – dieser Ton. Im Vergleich zu ihm hatten sich die Vorgesetzten in Bayreuth geradezu zivilistisch geäußert, obwohl man auch dort zu verstehen bekommen hatte, nicht im Kirchenchor angekommen zu sein. (Wie dort die Gepflogenheiten sich darstellten, darstellen, weiß ich allerdings nicht.) Gemaule um mich herum, Empörung, einsetzende Trauer um die Mähnen. Denn in jenen Tagen des Frühjahrs 1972 galt noch der „Haarerlaß“ – eine wundervolle Eingebung des Zeitgeists und seiner revolutionär-friedensbewegten Anti(amerikanischen)kriegshauptströmung, die sogar ein Löchlein – und es war wie wundersam gewesen – in den Betonköpfen der Militärs – nein, dort nicht, sondern in den zugegeben zeitweilig nicht ganz so zugezimmerten und von den anhaltenden Prostesten und Unmutsäußerungen der Nach-APO-„Bewegung“ verunsicherten SPD-Politikern fand. Die, diese Politiker, wollten ja mehr Demokratie wagen und hatten sich – auch ein blindes Huhn findet dem Sprichwort zufolge einmal ein Korn – in dieser Bemühung vielleicht pflichtschuldigst der demokratischen Grundrechte des Rechts auf körperliche Unversehrtheit und des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit entsonnen und sich deshalb vorstellen können, daß man auch mit langen Haaren Menschen töten kann, wie die Geschichte, die berühmt-berüchtigte, jedenfalls ihre Schreibung, ja genug Beispiele vorführt. Aber das Stroh, von dem auf der Hardthöhe zu Bonn am Rheine stets viel vorhanden war und das dort ständig gedroschen wurde und wird – in unseren Jahren haut man ab und zu aber tatsächlich zusätzlich auf Köpfe ein, wenn auch zunächst nur auf ausländische in Asien und anderswo vermutlich auch, auch ein demokratischer Fortschritt –, das wurde, es war dies nur ein unbedeutender Anteil an der Gesamt-, ja Überproduktion, im Juni 1972 dazu benutzt, dieses Löchlein abzudichten, was der damalige Bundesverteidigungsminister und nachmalige Bundeskanzler Schmidt besorgte, als er den „Haarerlaß“ aufhob.
Aber so weit sind wir noch nicht. Die anderen maulten und kamen nach 17 Uhr von diesem Frisör zurück. Ich ging am frühen Abend in die Waschräume und wusch meine langen Haare, die, vom Haarnetz, unter dem sie als hübscher Dutt eingepackt gewesen waren, befreit, von der Schädeldecke baumelten, als sie vom Strahl aus der Dusche benetzt wurden. Leider hatte ich keinen Fön zur Hand, so mußte ich mir die über die Schultern fallenden Haare naß kämmen und von der Luft trocknen lassen. Ich kämmte mich schön, als der Batteriechef, der mittags vor uns gestanden hatte, hereinkam, aus Gründen, die erst einmal nichts mit mir zu tun gehabt hatten, mich sah, stutzte. „Hat man Ihnen nicht gesagt, daß Sie zum Frisör gehen sollen?“, fragte er erstaunt. „Doch, ich fühle mich aber nicht dazu veranlaßt“, sagte ich und kämmte weiter. Er stand und starrte. Ich meine, ich war ein hübscher Typ, und vielleicht war er empfänglich? „Und warum nicht?“, hakte er nach. Er wollte nicht glauben, was seine Ohren aufgenommen hatten. „Das war ein Befehl, ist Ihnen das nicht klar?“ „Er steht aber wegen des Haarerlasses nicht in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht und seiner Anwendung auf die Truppe“, sagte ich, sinngemäß. „Solange dieser Erlaß gilt, sehe ich keine Veranlassung, so einen Befehl auszuführen.“ Ich war kühl bis an’s Herz hinan und ließ mich nicht stören. Das war wohl der Augenblick, in dem dieser Hauptmann sich sagte: „Das habe ich noch nicht erlebt.“
Während ich Toilette machte, legte er seine andere Platte auf, die des um Verständnis Heischenden. Er redete von Kameradschaft, aus der ich fiele, wenn ich mich anders als die anderen Kameraden benehmen würde; ich würde doch nicht überheblich wirken wollen. Er wurde bildungsbürgerlich. Ich sei doch Abiturient – wußte er ja aus der mitgeschickten Akte – und würde den Kantschen Imperativ kennen. Auch seien lange Haare während tagelangem Aufenthalt „im Feld“, zumal bei Sommerhitze, in der man oft schwitze, doch unbequem und schlecht zu säubern; und ich solle morgen den Frisör aufsuchen. Ich dachte nicht daran. Seine Säuselplatte war abgelaufen, da legte ich eine härtere aus meiner auch für solche Zwecke nicht besonders umfangreichen Sammlung auf. Ich sei Kriegsdienstverweigerer, dies zuerst vorab. Mein Prozeß sei noch nicht entschieden. Er solle sich mal erkundigen. Ich bestünde auf meinen Rechten als Soldat und Staatsbürger in Uniform, um die damals beliebte integrative Phrase ihm um die Ohren geschlagen zu haben, ich sei außerdem Mitglied der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend, Jugendorganisation der Deutschen Kommunistischen Partei, und mir behagte, um das einmal klarzustellen, der Name dieser Kaserne nicht, in der man sich offenbar noch dem alten Naziwehrmachtsgeist verpflichtet fühle, und ich hätte Beziehungen zu linken Zeitungen wie der „Deutschen Volkszeitung“, und ich würde hier auch gar nichts androhen wollen, wegen der Verschwiegenheitspflicht nicht, aber er könne sich denken, was ich damit meinen würde, und ich ginge nicht zum Frisör. Wortlos retirierte er.
Ich zog am nächsten Tag mein braunes grobmaschiges Haarnetz über die Pracht, bevor wir im Frühtau zu Berge zogen, ein fein‘ braun‘ Liedlein – „Schwarzbraun ist die Haselnuß ...“ – singend, das heißt, ich sang nicht. Ich wußte, meine kreuz-und quer-Lektüren waren mir im Dienst öfters dienlich, daß dieses Lied von Hitlers Soldaten geträllert worden war. „Diedrich, singen Sie!“ brüllte Unteroffizier rechts, „Kanonier Diedrich, singen Sie!“ schrie Leutnant links. „Halten Sie den Tritt!“ Ich wußte, wie man in Reih und Glied marschiert, das hatte ich bereits bei den Schützenfesten zu Biberach in den sechziger Jahren perfekt drauf. Dieser Verein hier war es nicht wert. Sie wollten Druck machen. Darüber konnte ich nur lachen. Die anderen um mich herum staunten. Ich wußte aber, sehr lange würde es so nicht funktionieren. Nach dem Marsch wollten die, die mich angebrüllt hatten, mit mir „diskutieren“. Dieses Wort hörte sich aus solchen Mündern eigenartig an. Ich merkte, wie ungewohnt es ihnen war. Sie stotterten etwas von Vaterlandsliebe und Pflichterfüllung, und was der Floskeln mehr waren, zusammen; ich verlor das Interesse, und sie gaben es auf, mich umstimmen zu wollen. Ich holte mir ein Bier, denn die Dienstzeit war zu Ende und schluckte die Flasche leer. Ich war gespannt auf den nächsten Tag. So lange dauerte es nicht, bis man höheren Orts zu einer Entscheidung kam. Der MAD, Militärischer Abschirmdienst, war vielleicht zu der Überzeugung gelangt, ein renitenter Kommunist in einer Kaserne an der Grenze zur kommunistischen Gefahr sei für die Verteidigungsanstrengungen nicht dienlich. Ich sollte, trotz Dienstschluß, „zum Chef“ kommen. In zuvorkommendem Ton – hoppla – wurde mir mitgeteilt, daß ich zurück nach Weiden gehen würde. Ich ging auf die Stube und schrieb den Brief an den Rechtsanwalt. (Dieses Gespräch mit diesem Batteriehauptmann hatte ich in der Erinnerung mit dem letzten Morgen meiner Anwesenheit dort zusammengelegt.)
An jenem Morgen hatte ich mich also noch einmal bei ihm zu melden. Höflich, mir das beste für meine Zukunft bei der Bundeswehr wie für’s Leben wünschend, entließ mich dieser mittelgroße Offizier aus seinem Zuständigkeitsbereich. „Kanonier Diedrich meldet sich ab!“, sagte ich und grüßte militärisch. Als ich auf den großen Kasernenhof trat, fuhr einer der Lastwagen, mir ein inzwischen vertrauter Anblick, herein. Ihm entstieg – der Unbedarfteste meiner alten Stube in Bayreuth. Statt meiner mußte der arme Tropf nun Dienst unter erschwerten Bedingungen tun. Er grinste ratlos. Was war ihm Knall auf Fall passiert? Für zwei Sekunden fühlte ich mich schuldig. Ich ganz allein wurde nach Bayreuth chauffiert. In meiner alten Stube begrüßten mich die Kumpel mit Hallo. Ich war wieder „Jg. Diedrich.“
- Ein vergrauter Tag, in den nur nachmittags in unregelmäßigen Intervallen Sonnenstrahlen fielen. Vor dem Schwinden des Lichts an manchen Segmenten der Wolkendecke Öffnungsflecken, die zu hell waren, um ihnen die Farbe Rosa zuschreiben zu können.
10.4.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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