30.3.2002
Was die Biberacher, auch die jüngeren, gar nicht besonders verwunderlich finden mochten. Schließlich besitzt die oberschwäbische Stadt einen besonders guten Draht nach oben; zum Liaben Herrgöttle vo Biberach. „O liab’s Herrgöttle vo Biberach, hilf!“ lautet(e) eine geläufige – inzwischen seltener gewordene – Anrufungsfloskel, die auch in der erweiterten Veränderung „O liab’s Herrgöttle vo Biberach, mach, daß i des Mädle kriag!“ oder „O liab’s Herrgöttle vo Biberach, hilf, daß i di Erbschaft kriag!“ oder aus anderen Anlässen gen Himmel seufzend ausgestoßen werden, allerdings fast immer nur in Gedanken, denn der Schwabe ist vorsichtig und hat’s nicht so gern, wenn andere Schwaben, auch nur zufällig herumstehende, Einblicke in seine Pläne und Hoffnungen erhalten. Dieser Seufzer ist fast nie ein Ausdruck sich erleichternder ernster Belastung und Seelennot, sondern in ihm schwingt die Erheiterung über die Umstände mit, die zu ihm geführt haben; ja sie schwingt nicht nur mit, sondern überwiegt sogar, denn dieser Seufzer ist einer der komischen Verzweiflung. Wenn der Schwabe in seiner Ausformung als Oberschwabe, eine Unterspezies für sich, wirklich Sorgen hat und sich noch der Christenreligion verbunden fühlt, und davon gibt es etliche, spricht er – als katholischer oder protestantisch-pietistischer, was eigentlich nicht zu vernachlässigende Unterschiede ausmacht, die zu erörtern wir nun aber nicht die Geduld aufbringen und uns auf gut schwäbisch sparen – wohl doch anders zu seinem Gott. Dann verkleinert und verniedlicht er ihn nicht zum Herrgöttle, zu einer halb komischen Figur wie aus dem Kasperletheater, das alljährlich zum Schützenfest in Biberach auf dem Gigelberg zwischen den technisch avancierteren Angst- und Schrecken-, Gut- und Bösemaschinerien seine uralten Geschichten von der Anfechtung des schwach-guten Menschen durch die Kräfte der Finsternis und seiner Erlösung, tatkräftig befördert von den Hieben des schelmischen Kasperles für die Bösen, darstellt. (Andererseits ist ja das ganze Weltgeschehen ein einziges Kasperletheater, wie erst kürzlich wieder ein Abstimmungsverfahren im Deutschen Bundesrat erheiternd vorführte.) Der Schwabe verkleinert gern, was er hat; eine Schutzfunktion, die ihn vor dem Neid der Nachbarn bewahren möge; wenn er von seinem „Mädle“, seinem „Autole“, seinem „Häusle“ spricht. Er will nie zeigen, wieviel er wirklich hat. Diese tiefe und besorgte Ernsthaftigkeit im Umgang mit Besitz ist dann wiederum der Grund, warum seine Diminutiv-Sucht aber nicht den Kern der Persönlichkeit erreicht, nicht zur Quelle all dieser schönen Erwerbungen vordringen darf: er sagt nie „mein Geldle“. Das hieße, das Geld zu beleidigen, und da sei sozusagen Gott vor. Er redet stets von seinem „Geld“. Da hört dann nämlich doch der Spaß und die Verharmlosung auf und das Selbstbewußtsein, durch fleißiges „Schaffe“ erworben, zeigt sich – unbewußt – stolz, was also letztlich die umsichtigen Verkleinerungsbemühungen wieder zunichte macht, und notfalls erweist er dem Geld größeren Respekt und höhere Ehre als dem Herrn Gott, den man schon einmal ungestraft zum Herrgöttle machen darf, um besser mit ihm umgehen zu können, auf halbmenschlicher Ebene, auf die er mit dieser traulich-putzigen Anrede heruntergeholt wird, gleichsam als eine Art Professor Vitzliputzli mit Zauberkräften. Man darf sich aber nicht täuschen: auch diese Vertraulichkeit in der Anrede negiert die Frömmigkeit, die dennoch hinter ihr zu ahnen ist, keineswegs; sie beweist vielmehr ein inniges zärtliches Zutrauen in jenes höhere Wesen, das sie verehren.
„O liab’s Herrgöttle vo Biberach!“ – dies Anflehen wird in Biberach jedoch – man mag mich eines Tages berichtigen, wenn’s nicht so ist – vor allem, nahezu ausschließlich, von den katholisch eingesegneten Köpfen der Einwohnerschaft ausgeübt, die Evangelischen haben – oder hatten, die Religionskritik machte auch vor dem Biberacher Ulmer Tor nicht halt – doch ein etwas distanzierteres Verhältnis, dem gläubigere Strenge eingeschrieben ist, zum Lenker der himmlischen Heerscharen und Herrschaften. Seit den grausamen Ereignissen des Dreißigjährigen Krieges wurden die religiösen Differenzen in der Freien Reichsstadt (ehedem) durch die segensreiche Erfindung der Parität gemildert, die beiden Glaubensrichtungen – eine Rarität in deutschen und anderen Landen – sogar die Benutzung ein und derselben Stadtpfarrkirche (in APO-Zeiten „St. Phallus“ genannt) zur Ausübung der unterschiedlich gewordenen Kulte erlaubt. Und das funktionierte über Jahrhunderte hinweg, auch in der paritätischen Benutzung weltlicher Ämter! Freilich, während einer allgemeinen Säkularisierung der Gesellschaft schliffen sich auch die strikten Abgrenzungen der religiös bedingten Verhältnisse ab, und in einem der Jahre, die weit zurückgelassen worden sind, setzte sich ein neuer Rat der Stadt und Gemeinderat später aus Bürgern beider Konfessionen zusammen; so weit ist man in Biberach also schon seit längerem. Doch zeigt nicht die Tatsache, daß jene Regelung nach dem Westfälischen Frieden eingehalten worden war, vom Wirken und Walten eines Herrgöttles speziell für diese wahrlich kleine urbs?
Auf dem höchsten Punkt des Lindele, der höchsten Erhebung über Biberach, von der aus früher, als dort die Bäume noch nicht so hoch in den Himmel gewachsen waren, das Alpengebirge betrachtet werden konnte – in eine runde Platte, auf der ein hochklappbarer Metalldeckel zum Schutz vor den Witterungseinflüssen lag, waren die einzelnen Gipfel eingraviert worden – und wo ich mich als Kind und Jugendlicher ab und zu herumtrieb, steht hoch aufgerichtet ein hölzernes Kruzifix; das steht über dem Tal, aber der Ermordete, der da hölzern hängt, der war das Herrgöttle vo Biberach nicht; der soll einmal der Sohn gewesen sein, vor annähernd zweitausend Jahren; und auch das nicht, sondern dessen Symbol. Ich entfremdete mich aber im Lauf der Jahre von seiner Lehre, und wenn nicht von seiner, so von der seiner Apostel und Epigonen und seiner Kirche, die er nie hatte begründen wollen, und deshalb war er, als ich als Jugendlicher mit Pfeife dort oben herumspazierte – ungefähr in dem Alter, in dem Wieland mit Sophie Gutermann, spätere LaRoche, dort flaniert hatte –, nur der übliche INRI, und irgendwann dachte ich im Vorübergehen: „Es wäre besser gewesen, du wärst nicht auferstanden, es wäre eine Illusion weniger in der Welt.“ Das Liabe Herrgöttle vo Biberach mußte ich – evangelisch eben aufgezogen – auch nie bemühen, wenn’s um ein Mädle ging, aber um ein Mädle ging’s bei mir ja nie. (Wie war denn das übrigens wirklich, das mit dem Lieblingsjünger des Nazareners?)
In einer ununterbrochen blutig hin und her gerissenen Welt sollte aber über die Lehre dessen, den die damals herrschende Weltmacht als „König der Juden“ verspottet hatte, nicht gespöttelt werden, an einem Karsamstag, denn seine Worte und Taten waren nicht ohne, wenn sie denn geschehen waren, nur die seiner Jünger waren ohne heiligen Geist, ohne Erleuchtung; zu oft gnadenlos. Ausnahmen gab’s und gibt’s immer. An ihm wurde exemplarisch vorgeführt, wie die schönen menschenfreundlichen Ideen immer von den Exekutoren der tristen Realpolitik umgebracht werden. Das ist die wahre Lehre davon, das bleibt leider wahr.
- Sonnig, nachmittags zog sich der Himmel zur dritten Stunde zu; aber gestern war Freitag.
30.3.2002
„O liab’s Herrgöttle vo Biberach!“ – dies Anflehen wird in Biberach jedoch – man mag mich eines Tages berichtigen, wenn’s nicht so ist – vor allem, nahezu ausschließlich, von den katholisch eingesegneten Köpfen der Einwohnerschaft ausgeübt, die Evangelischen haben – oder hatten, die Religionskritik machte auch vor dem Biberacher Ulmer Tor nicht halt – doch ein etwas distanzierteres Verhältnis, dem gläubigere Strenge eingeschrieben ist, zum Lenker der himmlischen Heerscharen und Herrschaften. Seit den grausamen Ereignissen des Dreißigjährigen Krieges wurden die religiösen Differenzen in der Freien Reichsstadt (ehedem) durch die segensreiche Erfindung der Parität gemildert, die beiden Glaubensrichtungen – eine Rarität in deutschen und anderen Landen – sogar die Benutzung ein und derselben Stadtpfarrkirche (in APO-Zeiten „St. Phallus“ genannt) zur Ausübung der unterschiedlich gewordenen Kulte erlaubt. Und das funktionierte über Jahrhunderte hinweg, auch in der paritätischen Benutzung weltlicher Ämter! Freilich, während einer allgemeinen Säkularisierung der Gesellschaft schliffen sich auch die strikten Abgrenzungen der religiös bedingten Verhältnisse ab, und in einem der Jahre, die weit zurückgelassen worden sind, setzte sich ein neuer Rat der Stadt und Gemeinderat später aus Bürgern beider Konfessionen zusammen; so weit ist man in Biberach also schon seit längerem. Doch zeigt nicht die Tatsache, daß jene Regelung nach dem Westfälischen Frieden eingehalten worden war, vom Wirken und Walten eines Herrgöttles speziell für diese wahrlich kleine urbs?
Auf dem höchsten Punkt des Lindele, der höchsten Erhebung über Biberach, von der aus früher, als dort die Bäume noch nicht so hoch in den Himmel gewachsen waren, das Alpengebirge betrachtet werden konnte – in eine runde Platte, auf der ein hochklappbarer Metalldeckel zum Schutz vor den Witterungseinflüssen lag, waren die einzelnen Gipfel eingraviert worden – und wo ich mich als Kind und Jugendlicher ab und zu herumtrieb, steht hoch aufgerichtet ein hölzernes Kruzifix; das steht über dem Tal, aber der Ermordete, der da hölzern hängt, der war das Herrgöttle vo Biberach nicht; der soll einmal der Sohn gewesen sein, vor annähernd zweitausend Jahren; und auch das nicht, sondern dessen Symbol. Ich entfremdete mich aber im Lauf der Jahre von seiner Lehre, und wenn nicht von seiner, so von der seiner Apostel und Epigonen und seiner Kirche, die er nie hatte begründen wollen, und deshalb war er, als ich als Jugendlicher mit Pfeife dort oben herumspazierte – ungefähr in dem Alter, in dem Wieland mit Sophie Gutermann, spätere LaRoche, dort flaniert hatte –, nur der übliche INRI, und irgendwann dachte ich im Vorübergehen: „Es wäre besser gewesen, du wärst nicht auferstanden, es wäre eine Illusion weniger in der Welt.“ Das Liabe Herrgöttle vo Biberach mußte ich – evangelisch eben aufgezogen – auch nie bemühen, wenn’s um ein Mädle ging, aber um ein Mädle ging’s bei mir ja nie. (Wie war denn das übrigens wirklich, das mit dem Lieblingsjünger des Nazareners?)
In einer ununterbrochen blutig hin und her gerissenen Welt sollte aber über die Lehre dessen, den die damals herrschende Weltmacht als „König der Juden“ verspottet hatte, nicht gespöttelt werden, an einem Karsamstag, denn seine Worte und Taten waren nicht ohne, wenn sie denn geschehen waren, nur die seiner Jünger waren ohne heiligen Geist, ohne Erleuchtung; zu oft gnadenlos. Ausnahmen gab’s und gibt’s immer. An ihm wurde exemplarisch vorgeführt, wie die schönen menschenfreundlichen Ideen immer von den Exekutoren der tristen Realpolitik umgebracht werden. Das ist die wahre Lehre davon, das bleibt leider wahr.
- Sonnig, nachmittags zog sich der Himmel zur dritten Stunde zu; aber gestern war Freitag.
30.3.2002
30.03.