27.3.2002
Vermutlich wurde ich gefragt, was mein Erzeuger mich gefragt hatte. Hatte er etwas von den Lebensumständen und der Einstellung meiner Mutter zum Grundproblem, das die zwei miteinander hatten, erfahren wollen? (So wurde ich freilich nicht gefragt, so frage ich heute.) Aus meinem Mund, denn bekanntlich tut Kindermund Wahrheit kund. Ich meine sagen zu dürfen, daß ich aufmerksam und vorsichtig genug und so zuverlässig fest an der Seite meiner Mutter stand, daß mir kaum etwas entschlüpft sein konnte, was meiner Mutter hätte schaden können – Kinder können in solchen Momenten ja gewitzt und – vielleicht sogar das – gewarnt sein. Für mich stand immer fest, daß ich zu meiner Mutter gehöre, nie empfand ich auch nur das kleinste Bedürfnis, mit diesem Mann, der offenbar mein Vater war, längere Zeit, gar auf Dauer, zusammen zu sein. In der Zeit, in der dieser Sonntagsbesuch stattfand, fuhr ich, einmal, vielleicht mehrmals, ich weiß aber nur von dem einen Mal, mit meinem Vater hinaus ins Grüne; im Seitenwagen seines Motorrads. Gibt es an einem Motorrad eine kleine Benzinpumpe, die mit dem Finger betätigt wird? So eine Erinnerungssequenz, wie der Finger über einem dünnen Metallröhrchen auf und nieder wippt, habe ich vor dem inneren Auge. Ich saß im Beiwagen, von einer Plane bedeckt, wir fuhren durch den Burrenwald nordwestlich vor der Stadt – nehme ich an, es ging jedenfalls durch einen Wald. Das war das dritte Erlebnis, das ich in meiner Kindheit mit meinem Vater hatte, das mir schemenhaft im Gedächtnis blieb.
Daß mein Vater mit einer anderen Frau ein Verhältnis hatte, das war mir längst bekannt. Frau H. sagte mir Jahrzehnte danach, ich hätte diese Frau gehaßt und mich so geäußert. Ich haßte sie aber nicht, weil sie mir den Vater wegnahm – ich kann das verständlicherweise nicht belegen; sondern weil sie meiner Mutter ständigen Kummer machte; das war etwas anderes. (Freilich kann ich nicht ausschließen, das Gefühl gehabt zu haben, daß es nicht so übel wäre, einen Vater zu haben; aber dann einen weniger üblen, und wahrscheinlich haßte ich diese fremde Frau, die jünger als meine Mutter, natürlich, war, deshalb, weil sie meinen Vater zu einem schlechten Mann machte. Ich wußte damals noch nicht, daß ich einen Halbbruder habe, daß mein Vater schon einmal mit einer anderen Frau verheiratet gewesen war, daß auch diese Ehe wegen seines Verhaltens nicht gehalten hatte; hätte mich auch kaum interessiert. Habe ich schon geschrieben, daß meine Mutter diesen Mann unbedingt wollte? Daß die Initiative zu dieser Ehe von ihr ausging?) So war, so sei es gewesen, und ich weiß fast nichts mehr davon.
In den sechziger Jahren gab es Abende, an denen ich meiner Mutter ihre – mal besser, mal schlechter versteckte – Niedergeschlagenheit ansehen konnte. Eine Begegnung mit ihrem Mann (geschieden waren sie ja nicht) und dessen Lebensgefährtin irgendwo zufällig in der Stadt war geschehen. „Ich hab den Alten mit dem Weib gesehn“, sagte sie dann; ihre Miene war verbittert, die Worte „den Alten“ oder „der Alte“ kamen verächtlich, einmal heftiger, einmal deprimierter, in unterschiedlichem Maße eben, wie die Kraft, Verachtung und Trauer ausdrücken zu können, nach solchen schockierenden Augenblicken noch reichte, hervor. Das war aber alles, was sie dann sagte, das, was man stumme Verzweiflung nennt, hatte sie so in der Gewalt, daß sie es bei dieser Einsilbigkeit fast immer belassen mußte; jedes ausführlichere Sprechen darüber hätte die Situation nur stärker werden lassen. Ich entgegnete meistens nichts darauf, und wenn doch, war es etwas wie: „Vergiß doch endlich den Quatsch“, was weder einfalls- noch hilfreich war; eben weil ich wußte, daß ihr nie und niemals zu helfen sein würde, daß sie diese existentielle Demütigung, die ihr das Leben zerfraß, nicht überwinden würde, wußte ich nichts anderes zu sagen, und versuchte ich doch, sie mit einigen jugendlich-verständnisvollen Worten zu trösten, lächelte sie müde und schmerzlich. Müde war sie dann, nahm eine ihrer Beruhigungspillen ein und legte sich auf die Coach. Ich wußte schon als Dreizehn- und Vierzehnjähriger: eines Tages würde sie zu viele von ihren Pillen nehmen.
- Sonniger, kalter Tag, undramatische Himmelsentwicklung während der Abenddämmerung.
27.3.2002
Daß mein Vater mit einer anderen Frau ein Verhältnis hatte, das war mir längst bekannt. Frau H. sagte mir Jahrzehnte danach, ich hätte diese Frau gehaßt und mich so geäußert. Ich haßte sie aber nicht, weil sie mir den Vater wegnahm – ich kann das verständlicherweise nicht belegen; sondern weil sie meiner Mutter ständigen Kummer machte; das war etwas anderes. (Freilich kann ich nicht ausschließen, das Gefühl gehabt zu haben, daß es nicht so übel wäre, einen Vater zu haben; aber dann einen weniger üblen, und wahrscheinlich haßte ich diese fremde Frau, die jünger als meine Mutter, natürlich, war, deshalb, weil sie meinen Vater zu einem schlechten Mann machte. Ich wußte damals noch nicht, daß ich einen Halbbruder habe, daß mein Vater schon einmal mit einer anderen Frau verheiratet gewesen war, daß auch diese Ehe wegen seines Verhaltens nicht gehalten hatte; hätte mich auch kaum interessiert. Habe ich schon geschrieben, daß meine Mutter diesen Mann unbedingt wollte? Daß die Initiative zu dieser Ehe von ihr ausging?) So war, so sei es gewesen, und ich weiß fast nichts mehr davon.
In den sechziger Jahren gab es Abende, an denen ich meiner Mutter ihre – mal besser, mal schlechter versteckte – Niedergeschlagenheit ansehen konnte. Eine Begegnung mit ihrem Mann (geschieden waren sie ja nicht) und dessen Lebensgefährtin irgendwo zufällig in der Stadt war geschehen. „Ich hab den Alten mit dem Weib gesehn“, sagte sie dann; ihre Miene war verbittert, die Worte „den Alten“ oder „der Alte“ kamen verächtlich, einmal heftiger, einmal deprimierter, in unterschiedlichem Maße eben, wie die Kraft, Verachtung und Trauer ausdrücken zu können, nach solchen schockierenden Augenblicken noch reichte, hervor. Das war aber alles, was sie dann sagte, das, was man stumme Verzweiflung nennt, hatte sie so in der Gewalt, daß sie es bei dieser Einsilbigkeit fast immer belassen mußte; jedes ausführlichere Sprechen darüber hätte die Situation nur stärker werden lassen. Ich entgegnete meistens nichts darauf, und wenn doch, war es etwas wie: „Vergiß doch endlich den Quatsch“, was weder einfalls- noch hilfreich war; eben weil ich wußte, daß ihr nie und niemals zu helfen sein würde, daß sie diese existentielle Demütigung, die ihr das Leben zerfraß, nicht überwinden würde, wußte ich nichts anderes zu sagen, und versuchte ich doch, sie mit einigen jugendlich-verständnisvollen Worten zu trösten, lächelte sie müde und schmerzlich. Müde war sie dann, nahm eine ihrer Beruhigungspillen ein und legte sich auf die Coach. Ich wußte schon als Dreizehn- und Vierzehnjähriger: eines Tages würde sie zu viele von ihren Pillen nehmen.
- Sonniger, kalter Tag, undramatische Himmelsentwicklung während der Abenddämmerung.
27.3.2002
27.03.