25.3.2002
Am Tag danach stehe ich, etwas vornübergebeugt, vor dem dreiflügeligen Spiegel im Schlafzimmer, der der obere Teil, der Aufbauteil, der aus hellem Holz gefertigten Schlafzimmercommode ist, die links vom Fenster nach Süden ihren Ort innerhalb dieser Wohnung hat; beschaue und besehe mich, wobei ich die schmalen Flügel zu beiden Seiten des Spiegels in der Mitte unentwegt ein wenig hin und her bewege, um die Profil- und Halbprofilansichten zu variieren; ich kann dadurch auch einen Eindruck bekommen, wie mich andere Menschen sehen, nicht spiegelverkehrt, eben so, wie man anderen gegenübertritt; wenn man es gewohnt ist, nur den „einfachen“ Spiegelanblick von sich zu kennen, wird man sich, so doppelt gespiegelt, sodaß die einfache Spiegelung „aufgehoben“ und der Anblick „echt“ wird, etwas fremd. „So also sehen mich die Leute“, denke ich wieder, denn diese Selbstbespiegelung und -vergewisserung betreibe ich in diesen Jahren nicht zum ersten Mal. Ich bin zufrieden mit meinem Aussehen. Aber kleine Asymetrien des Gesichts fallen mir mit diesem Verfahren deutlicher auf; dann bin ich für ein paar Sekunden mißgelaunt, denn ich möchte makellos sein.
Hinter mir steht das Doppelbett, in dessen rechter Hälfte meine Mutter schläft – freilich nicht in diesen Minuten. Vor der Spiegelanrichte stehe ich auf dem nur handtuchbreiten dünnen Läufer, bewege die Flügel des Möbelteils; eine Winzigkeit zu mir heran, von mir fort; minutenlang; ein Spiel. Hinter mir, und hinter dem Wandschrank neben dem Spiegelmöbel, der in die Zimmerecke eingelassen ist, links an der Ostwand, das Bett meiner Kindheit, über ihm das hochrechteckige Fenster. Zwischen das Bett, in dem ich, `66 oder `67, ein Fünfzehn-, Sechzehnjähriger schon, noch immer schlafe (eine halbödipale Situation im Raum ...), und die Mauer wurde in den fünfziger Jahren ein extra dafür gezimmertes dickeres Brett mit zwei „Stelzen“ (es ist mit der Tapete der Wände beklebt) gestellt, damit die Kälte, die durch die Ostwand dringt, gemildert wird. An der gegenüberliegenden Wand nimmt ein geräumiger viertüriger Schrank (auch er in der Farbe des Doppelbettes und der Anrichte) die Ecke ein, die Süd- und Zwischenwand bilden. Ich öffne ihn. Der typische Geruch von Mottenkugeln entströmt ihm. In den Taschen des schwarzen Persianerpelzmantels meiner Mutter taste ich nach Münzen; Kleingeld, das ich für einen Kinobesuch am Abend, oder morgen, gut gebrauchen könnte; finde auch etwas, ein paar Ein- und Zweimarkstücke, einige Zehner; meine Mutter läßt sehr oft Wechselgeld in ihren Manteltaschen. Ich komme mir gar nicht wie ein Dieb vor, wenn ich das Geld jetzt in der Hand halte. Es kommt mir selbstverständlich vor, daß diese Münzen auch mir gehören. Und ich will nicht so oft bitten und betteln müssen. Indem ich dieses Kleingeld auf diese stille Art an mich nehme, erspare ich meiner Mutter und mir einen unnötigen Augenblick der schwachen Mißbilligung, der doch nur damit endet, daß sie mir die vier oder fünf Mark aus ihrer Börse gibt.
Die Tür neben dem Schrank ist die zum Wohnzimmer. In meiner Kindheit war sie stets verschlossen, denn damals hauste noch mein Erzeuger dort drüben. Weshalb auch die Wohnzimmertür des Flurs verriegelt war. Damals spielte sich das häusliche Leben meiner Großmutter und meiner Mutter und meines in der Küche, im kleinen Zimmer, im Schlafzimmer ab. Das größte Zimmer war eine Art terra incognita. Natürlich kannte ich den Begriff nicht. Es war fremdes Gebiet. Zugang verboten. Neben der anderen Tür, der, die sich zwischen Schlafzimmer und Flur befindet, und dem rechten Teil des Doppelbetts, von dieser Tür aus, wenn man das Schlafzimmer betritt, gesehen, steht das Nachtschränkchen (Farbe wie Schrank und Commode), auf ihm die etwa fünfzig Zentimeter hohe Lampe mit dem ausgebauchten Porzellanfuß, goldgelb, mit einem Schlierenmuster, darüber der safrangelbe Lampenschirm, zeltartig, oben wird der Stoff – ist es Seide? – von einer Kordel zusammengeschnürt, sodaß eine Einkerbung entsteht. (Auf der anderen Seite des Doppelbettes, zwischen dem Bett, in dem meine Großmutter starb und meinem, steht das zweite Nachttischchen, das in die Lücke gerade so hinein paßt.) An einem mattweißen Kabel baumelt der schwarze handgranatenähnliche Schalter; das Stromkabel schlängelt sich hinter dem Nachtschränkchen zur Steckdose. Ich stecke das gefundene Geld – denn es zu finden habe ich das Schlafzimmer betreten, bin dann aber vom Spiegel angezogen worden; „Spieglein, Spieglein an der Wand ...“ – in die Hosentasche (keine Jeans) und gehe in den Flur, ziehe die Tür hinter mir zu.
- Spätwintergrau und -kalt. Zwei, drei, vier winzige Schneeflocken vormittags, als ich über den Innnenhof ging.
25.3.2002
Hinter mir steht das Doppelbett, in dessen rechter Hälfte meine Mutter schläft – freilich nicht in diesen Minuten. Vor der Spiegelanrichte stehe ich auf dem nur handtuchbreiten dünnen Läufer, bewege die Flügel des Möbelteils; eine Winzigkeit zu mir heran, von mir fort; minutenlang; ein Spiel. Hinter mir, und hinter dem Wandschrank neben dem Spiegelmöbel, der in die Zimmerecke eingelassen ist, links an der Ostwand, das Bett meiner Kindheit, über ihm das hochrechteckige Fenster. Zwischen das Bett, in dem ich, `66 oder `67, ein Fünfzehn-, Sechzehnjähriger schon, noch immer schlafe (eine halbödipale Situation im Raum ...), und die Mauer wurde in den fünfziger Jahren ein extra dafür gezimmertes dickeres Brett mit zwei „Stelzen“ (es ist mit der Tapete der Wände beklebt) gestellt, damit die Kälte, die durch die Ostwand dringt, gemildert wird. An der gegenüberliegenden Wand nimmt ein geräumiger viertüriger Schrank (auch er in der Farbe des Doppelbettes und der Anrichte) die Ecke ein, die Süd- und Zwischenwand bilden. Ich öffne ihn. Der typische Geruch von Mottenkugeln entströmt ihm. In den Taschen des schwarzen Persianerpelzmantels meiner Mutter taste ich nach Münzen; Kleingeld, das ich für einen Kinobesuch am Abend, oder morgen, gut gebrauchen könnte; finde auch etwas, ein paar Ein- und Zweimarkstücke, einige Zehner; meine Mutter läßt sehr oft Wechselgeld in ihren Manteltaschen. Ich komme mir gar nicht wie ein Dieb vor, wenn ich das Geld jetzt in der Hand halte. Es kommt mir selbstverständlich vor, daß diese Münzen auch mir gehören. Und ich will nicht so oft bitten und betteln müssen. Indem ich dieses Kleingeld auf diese stille Art an mich nehme, erspare ich meiner Mutter und mir einen unnötigen Augenblick der schwachen Mißbilligung, der doch nur damit endet, daß sie mir die vier oder fünf Mark aus ihrer Börse gibt.
Die Tür neben dem Schrank ist die zum Wohnzimmer. In meiner Kindheit war sie stets verschlossen, denn damals hauste noch mein Erzeuger dort drüben. Weshalb auch die Wohnzimmertür des Flurs verriegelt war. Damals spielte sich das häusliche Leben meiner Großmutter und meiner Mutter und meines in der Küche, im kleinen Zimmer, im Schlafzimmer ab. Das größte Zimmer war eine Art terra incognita. Natürlich kannte ich den Begriff nicht. Es war fremdes Gebiet. Zugang verboten. Neben der anderen Tür, der, die sich zwischen Schlafzimmer und Flur befindet, und dem rechten Teil des Doppelbetts, von dieser Tür aus, wenn man das Schlafzimmer betritt, gesehen, steht das Nachtschränkchen (Farbe wie Schrank und Commode), auf ihm die etwa fünfzig Zentimeter hohe Lampe mit dem ausgebauchten Porzellanfuß, goldgelb, mit einem Schlierenmuster, darüber der safrangelbe Lampenschirm, zeltartig, oben wird der Stoff – ist es Seide? – von einer Kordel zusammengeschnürt, sodaß eine Einkerbung entsteht. (Auf der anderen Seite des Doppelbettes, zwischen dem Bett, in dem meine Großmutter starb und meinem, steht das zweite Nachttischchen, das in die Lücke gerade so hinein paßt.) An einem mattweißen Kabel baumelt der schwarze handgranatenähnliche Schalter; das Stromkabel schlängelt sich hinter dem Nachtschränkchen zur Steckdose. Ich stecke das gefundene Geld – denn es zu finden habe ich das Schlafzimmer betreten, bin dann aber vom Spiegel angezogen worden; „Spieglein, Spieglein an der Wand ...“ – in die Hosentasche (keine Jeans) und gehe in den Flur, ziehe die Tür hinter mir zu.
- Spätwintergrau und -kalt. Zwei, drei, vier winzige Schneeflocken vormittags, als ich über den Innnenhof ging.
25.3.2002
25.03.