15
Mrz

15.3.2002

Es war bestimmt nach dem Streik und auch nach Ostern 1970, als ich mit G. im „Biberkeller“, einer bekannten Gastwirtschaft mit einem großen Biergarten, die an der Kreuzung von Birkenharder, Mond- und Gaisentalstraße liegt, zusammen saß, um ihm bei einem Aufsatz, den er aufgebrummt bekommen hatte, behilflich zu sein. Er hatte sich im Unterricht von J. mit seinem Protestverhalten zu weit nach vorn gewagt und das war nur deshalb zu weit nach vorn gewagt, weil seine Äußerungen nicht gut genug durchdacht gewesen waren; er solle, wenn er schon davon rede, wissen, wovon er spreche. An dieser Strafarbeit also seine Gedanken ordnen. Nun, das war ja nicht ganz falsch und konnte nur nützlich für andere Auseinandersetzungen sein. Es war ein verregneter Tag. Wir hockten im fast leeren Lokal, tranken das „Kopfschmerzbier“ und formulierten an den Sätzen. (In Biberach wurde von einer bestimmten alteingesessenen Brauerei ein Bier gebraut, das spätestens nach dem Genuß von zwei „Halben“ unweigerlich leichte, lästige Kopfschmerzen hervorrief. Ob das noch immer so ist, kann ich nicht sagen, denn das Biertrinken hatte ich mir schon lange abgewöhnt, als ich mir alle gebrauten, gebrannten und gekelterten Alkoholika im Sinn des Worts über Nacht abgewöhnte.) G. schrieb, ich diktierte; das meiste von dem, was allmählich auf dem Papier stand. Das blaue Suhrkamp-Bändchen “Versuch über die Befreiung“ von Herbert Marcuse lag auf dem Wirtshaustisch, mehr „Material“ hatte ich nicht mitgebracht, aus dem wurden Zitate entnommen. Als G. fertig war, war ein erstklassiger „Neue Linke“-Aufsatz entstanden. Die Große Weigerung! Ich meine, ich habe mich ganz gut an sie gehalten. Nicht mitmachen bei kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung. Sich vom „System“ nicht vereinnahmen lassen, den Hierarchien trotzen! Diese Forderung war zwar nicht sehr marxistisch, aber ihr hoher moralischer Anspruch gefiel mir und hatte was für sich, und für mich, wie ja überhaupt das linke „Engagement“ in seinem Kern mit meiner christlichen Erziehung gut korrespondierte, in der das Gerechtigkeitsdenken und der Einsatz für die Schwachen und Benachteiligten sozusagen Beschlüsse des innerlichen ZK (nicht das der Katholiken ...) waren, von denen allerdings die Kirchenideologie nichts hatte, weil sich diese Beschlüsse gegen sie wendeten; die guten Geister, die die ernsthafte gedachte und praktizierte Christenmoral hervorgerufen hatte, waren sehr kritische, die sich in ihrer Strenge und Unbedingtheit wiederum mit der pietistischen Kargheit des protestantisch-lutherischen Denkens vertrugen. Schon deshalb konnte der rheinische (katholisch-kölnisch klüngelnde und klingelnde) Heuchlerkapitalismus – „Die Seele in den Himmel springt, sobald das Geld im Kästlein klingt“ – der „BRD“ und seine alles andere als jenseitssehnsüchtige Wirtschaftswunderreligion, mit der die Deutschen ihre Nazisünden vergessen wollten, von mir nicht verinnerlicht werden. Die Große Weigerung – ich versuchte sie zu leben.
- Spätwintertag mit großen Schneeflocken, die mittags Straßen und Wege, Dächer, Autos, Passanten, Hunde, Bäume, struppige Gehölze, Straßenbahnen, Baumaschinen, Regenschirme etc. pp. befeuchteten, für eine kleine Zeitspanne.
15.3.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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