13
Mrz

13.3.2002

1970, das genaue Datum ließe sich ja ermitteln, in Zeitungsarchiven, im Internet, auch in Akten des ermittelnden Verfassungsschutzes, in einer schon oder noch wärmeren Jahreszeit, wurden in ganz Baden-Württemberg die Gymnasien und auch – es mag sein, daß dies nur eine Behauptung ist – Hochschulen wegen der Einführung des Numerus clausus bestreikt. „Stürzt den Hahn, den alten Gockel, runter vom Ministersockel!“, skandierten die Demonstranten in Stuttgart. Hahn war der Name des Kultusministers. In Biberach wurde nicht demonstriert, sondern nur mit Fernbleiben vom Unterricht gestreikt. Als kleiner Nebenaspekt der abebbenden „Studentenbewegung“ ging dieser landesweite Schülerstreik nicht nur in die Annalen der Zeitgeschichte, sondern gar in die Seiten der Biberacher Stadtgeschichte, mit einigen Zeilen, ein. Wie in Biberach üblich, kam auch dieser Aufruhr aus einer roten (kleines oder großes „r“?) Zelle im Wieland-Gymnasium, „WG“ genannt. Im Wirtschaftsgymnasium war offenbar ich der Überkritische – „du bist zu kritisch“, hatte sogar Max S., einer der Aufrechten Sieben, die mit ihren Meinungen auch nicht immer hinter dem Berg hielten, zu mir gesagt – und das nicht ungern, und diese „Sieben gegen Theben“, einschließlich mir, beschlossen, sich diesem Streik anzuschließen. Vermutlich wurde sehr rasch eine ad hoc-Resolution verfaßt und vorgetragen, die die zu erreichenden Ziele des Streiks aufführte und begründete, oder es war eine solche schon sehr schnell in die Schule gelangt (was wahrscheinlicher ist, denn wie sonst hätten wir an jenem Vormittag von dem Streik erfahren sollen?), aber schon in unserer Klasse war ihm kein wesentlicher Erfolg beschieden. Hatten wir nicht auch eine kurze Diskussion mit Studiendirektor J.? Der mit Konsequenzen drohte? Unverdrossen klopften wir, so höflich ging es doch zu, an die Türen der anderen Klassenräume der Schule, weit zu gehen hatten wir nicht, denn es gab nur zwei Parallelklassen und die drei nachfolgenden, bauten uns vor den verblüfften Schülerinnen und Schülern auf (die Lehrkräfte guckten etwas verwirrt) und trugen den Minderheitsbeschluß unserer Klasse vor. (War es nicht wie damals bei Bolschewiki und Menschewiki? Auch damals überrumpelten die Bolschewiki, die „Minderheitler“, die Mehrheitsfraktion; später wurde daraus der Demokratische Zentralismus ...) Beteiligten sich auch Schüler dieser Klassen am Streik? Ich weiß es nicht, ob sich dort jemand anschloß, beachtete es auch nicht genau, denn Eile war geboten. (Schnell zu sein ist immer einer der wichtigsten Faktoren für das Gelingen einer Revolution.) Eine Abordnung marschierte hinüber zum Wieland-Gymnasium – seine Lage innerhalb der städtischen Topographie ist schon bekannt ist, das Wirtschaftsgymnasium befand sich in der Dollinger-Schule, in einem schmutzig-rosafarbenen Bau aus dem Jahr 1952 neben der Fachhochschule für Architektur an einem anderen Ort in der Stadt – , wo die Solidarität, sozusagen die uneingeschränkte, mit der blitzartig über’s Ländle herein geschwappten Streikwelle bekundet wurde. Im dort improvisierten Streikbüro wurde es wohlwollend notiert. Wir kehrten um, wo die anderen unserer Klasse lernend sitzen geblieben waren, um ihre Karrieren nicht schon zu diesem Zeitpunkt zu gefährden, woran man sehen kann, daß Sitzenbleiben das Vorankommen keineswegs behindert, schnappten unsere Mappen und trollten uns zu informellen Gesprächen in ein Café.
Wir ließen uns also am nächsten Tag nicht sehen. Nachrichten kamen: Oberstudiendirektor T. hatte die Eingangstüren der Schule abgeschlossen, damit während der Unterrichtszeit niemand hinein und niemand hinaus konnte. Ich saß – und war nicht auch Hildegard, die einzige Frau unter den Glorreichen Sieben, dabei? – im „Rebstock“ in der Consulentengasse und studierte die Streik-Artikel in der „Schwäbischen“ und der „Stuttgarter Zeitung“ und in der „Frankfurter Rundschau“. Schon las man, daß er abzubröckeln begann. Natürlich machten auch wir uns ein paar Gedanken, denn irgendwelche disziplinarischen Folgen waren nicht ausgeschlossen. Aber in Stuttgart war man nervös geworden, es gab Zusagen für „Überlegungen“ usw., viel konnte man darauf nicht geben, aber der Spaß war nicht ganz ohne Wirkung geblieben. Wann wurde dann der Streik für beendet erklärt? Wir jedenfalls setzten uns nach drei Tagen wieder auf die Stühlchen. Es gab keine Konsequenzen. Was immer hinter der Tür des Lehrerzimmers gesagt worden war – wir erfuhren es natürlich nicht. Die revolutionären Umtriebe waren damit beendet. In meinen volkswirtschaftlichen Klassenarbeiten gebrauchte ich ein marxistisch eingefärbtes Vokabular, was D. – der mehrmals versuchte, mich mit Läppischkeiten im Unterricht auflaufen zu lassen, was aber leichte Havarieschäden eher bei ihm verursachte, er ließ es sein, seit geraumer Zeit schon ist nun er Direktor des Wirtschaftsgymnasiums – offensichtlich nicht störte, solange die Fakten und Zusammenhänge stimmten; marxistisch-materialistisch betrachtet stimmten sie eigentlich noch „besser“. Die makroökonomischen Belange interessierten mich durchaus, D. honorierte das mit der Note „gut“.
Bei E., einem älteren, musischen freundlichen Mann, der Querflöte spielte, charmant zu den jungen Damen der Klasse war, sich öfters laut darüber wunderte, wie er ausgerechnet an diese Schule gekommen war, freigeistige Sprüche über Himmel und Hölle äußerte und mich nach dem Streik einmal milde ironisch – in dieser Ironie glaubte ich eine Spur Anerkennung zu hören – als „Volkstribun“ ansprach, hatten wir Englisch; ich lernte etwas. Wir lasen „Macbeth“, wir lasen Coleridge. „In Xanadu did Kublai Khan a stately pleasure dome decree / Where Alph, the sacred river ran / Through caverns measureless to man / Down to a sunless sea ...“ Super.
Mit dem letzten Deutschlehrer – sein Vorgänger Z., der nach Mozambique ging, hatte die Angewohnheit, meine Aufsätze vorzulesen, auch vergatterte er zweimal Willi F., meinen Nebensitzer, er ist Deutschlehrer geworden, dazu – freundete ich mich an. Wir duzten uns; nicht in der Schule. In K.s Wohnung hielt ich dann bis zum Sommer 1971 meinen Arbeitskreis im „Republikanischen Club“, dem er angehörte, ab. „Ben“, wie er auch von den andern Sieben Samurai genannt wurde, die mit ihm ebenfalls einen ungezwungenen Umgang hatten, war Ende Zwanzig und verließ mehr oder weniger fluchtartig das Wirtsch.gym., in dem er sich völlig am falschen Platz sah, und ließ sich, nach diesem doch noch von radikalen Aktivitäten, die allerdings außerhalb der Schule stattfanden, geprägten letzten Schuljahr vom Goethe-Institut nach Japan schicken. Wir schrieben uns einmal hin und her, über Thomas Mann und den Visconti-Film „Der Tod in Venedig“, und in seinem Brief stand, daß Heinrich Mann ihm näher sei; dann versandete diese Bekanntschaft. Ein paar Monate zuvor hatte er gewollt, daß ich mich der mündlichen Prüfung stellen sollte, die in seinem Fach und bei E. von meiner Freiwilligkeit abgehangen hätte; aber ich schlug es aus, es war mir zu viel Ritual dabei, ich wußte, was ich wußte, das genügte.; ich ließ die Spitzennote in diesen Fächern sausen. Zum Schluß wurde es aber wegen Mathematik, Sport, BWL und Physik doch noch knapp. Das „Mündliche“ in Physik, dem ich mich notgedrungen unterwarf, brachte mich durch den Engpaß. Als der Quatsch vorbei war, sagte ich J., ich wüßte sehr wohl, daß er es nicht ungern gesehen hätte, wäre ich durchgerasselt. Er grinste nur. Dann lag der Wisch im Schrank; ich warf Mathe-, BWL- und VWL-Bücher in zwei Plastiktüten, den Rechnungswesenschund dazu, und überantwortete diese dem Müll. Mir war ganz klar, niemals mehr würde ich damit zu tun haben. So war’s ja dann auch.
- Grau, unfreundlich. Abends Regen.
13.3.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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