7.3.2002
Im Januar oder Februar 1982 sah ich Till zum ersten Mal. Er war Schüler in einem der Gymnasien, die vom Kino durch einen großen Parkplatz vor dem Kaufhaus und eine Kreuzung getrennt sind und schlug – und das nur ein paar Mal, nehme ich an, denn sonst wäre er mir früher aufgefallen – die Zeit einer der Hohlstunden im „Sternchen“ tot, das in jenen Jahren vormittags als Café mit Filmbetrieb geöffnet hatte. Die Filme waren Kurzfilme, die zu den Spielfilmen für die regulären Vorstellungen mitgeliefert wurden; eine meiner Arbeiten bestand vormittags darin, diese Filme, von denen ich mehrere hintereinander hängte, von ihrer Spule den hier Weizenbier und Kaffee konsumierenden Gymnasiasten – normales Volk verirrte sich kaum noch in’s „Sternchen-Café“ – zum zusätzlichen Vergnügen vorzuführen. T. stand vor dem Abitur; wir redeten zum ersten Mal miteinander über ich weiß nicht mehr was; wir begegneten uns danach einige Male zufällig in verschiedenen Kneipen, die natürlich alle von Heteros voll waren, während der Frühling einzog. Till war zierlich, sehr schlank, fast dünn, hatte dunkle Locken, sah auf freche Weise gut aus und war sexy. Im Juli kamen wir uns näher. Ich war, obwohl ich auch für fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig hätte gelten können, schon dreißig und er mein erster Lover. Das muß man sich einmal vorstellen. Lieber nicht. Davor war nichts, nichts Konkretes, schon gar keine „Beziehung“. Für Jahre hatte ich zuvor unglücklich geliebt, vergeblich, aber hatte die gegenseitige Freundschaft, die daraus erwachsen war, für einige Jahre, schließlich nicht mehr bedeutet als „Liebe“, die vergeht? Ich lebte, wie ich dachte, etwas eigenartig. Überhaupt war mein Leben für einen Schwulen untypisch. Mein Coming out hatte ich mit zweiundzwanzig vollzogen. Man hatte schon vermutet, man war nicht überrascht, man fand’s wohl interessant. (Nur meine Mutter beließ ich im Ahnen.) Es ging ein wenig herum. Ich bekam nie Probleme, bewegte mich ja ausschließlich in einer aufgeschlossenen Siebzigerjahre-Szene mit künstlerisch-intellektuellem Hintergrund, und in ihr war man nicht dezidiert sozialistisch-libertär, aber liberal.
Probleme machte ich mir selber. Ich war hübsch und gut gebaut, überall, aber auch reichlich narzißtisch. Manfred S., der damals in linksagitatorisch-plakativer Weise mit Plakafarben malte, hängte zu seinen Bildern einer Sammelausstellung in der städtischen „Galerie in der Unteren Schranne“, die sich im selben Haus wie die Stadtbibliothek, im ersten Stock, befand, mein Portrait mit dem Titel „Nar(r)ziß“ an die Wand, und ich sah dort wieder blendend aus, war von mir selbst angetan; der Kulturredakteur des örtlichen Blattes, der schon erwähnte D., fragte Herbert K., der sich in seinen Biberacher Jahren den Lebensunterhalt als Schriftsetzer bei der „Schwäbischen Zeitung“ verdiente, erstaunt: „Ist der Diedrich ein Narzißt?“ Sehr lange dunkle Haare umwallten mein Edelmenschenhaupt.
Im Sommer meines Coming outs schrieb ich eine Erzählung von an die achtzig Seiten mit dem an Flaubert anspielenden Titel „Die Formierung der Gefühle“, in dem ich die Phase einer ersten erotischen Verwirrung, die mich für eine gewisse Spanne Zeit beschäftigte, thematisierte, und linke Aktivitäten, Reisen in Großstädte und Narzißmus waren die Zutaten. Ich schickte sie an einen bekannten Verlag und bekam sie auch wieder zurück. Wenn ich mich nicht irre, erhielt ich die Reinschrift, die ich 1977 einmal jemandem auslieh, in alkoholisiertem Zustand, weshalb ich dann auch nicht mehr wußte, wer sie hatte, nie mehr, nur die Erstfassung entdeckte ich vor dem Umzug nach Berlin. Ich mußte diesen Text – wahrscheinlich die erste schwule Erzählung, die je in Biberach an der Riß geschrieben wurde – schreiben. Ein undefinierbarer leichter Schmerz in der Blinddarmgegend belästigte mich. Eines Abends ließ ich mich vom „Strauß“ ins Krankenhaus fahren und dort untersuchen, wobei nichts herauskam. Der Schmerz war geblieben. In Selbstdiagnose erkannte ich, daß dies ein psychosomatisches Signal war. Ich mußte Druck aus mir lassen. Ich begann diese Erzählung zu schreiben. Parallel dazu las ich Proust. Während des Schreibens, wochenlang, biß mich stets dieser kleine Schmerz. Ich gewöhnte mich an ihn. An einem Wochenende, für das ich aus Stuttgart nach Biberach gefahren war, schrieb ich den Text fertig. Am folgenden Tag war der Schmerz, der mich über den Sommer begleitet hatte, verschwunden, ich spürte ihn nie wieder. Diese Erzählung war mein Coming out, einfach davon reden genügte in meinem Fall nicht, ich mußte davon schreiben.
Wenn Schriftsteller schreiben, daß sie schreiben „müssen“, sollte man dem aber keinen allzu großen Wert beimessen. Diese Behauptung hält einer eingehenden Prüfung selten stand. Es mag sein, wie bei mir, daß beim einen oder anderen eine wirklich vorhandene existentielle Not Ursache für sein Schreiben war oder ist. Bei den gut genährten, mit ein paar ersten Erfolgen etikettierten heterosexuellen Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus einer passabel situierten Mittelschicht ist das eher Prätention, was dann umso deutlicher zutage tritt, betrachtet man die Stoffe, die aus diesem „Muß“ entstehen. Aber, gut, es gibt diese Ursachen. War es nicht Gide oder wer war es, und Gide war es wahrscheinlich nicht, denn diese Abgeschmacktheit hätte er sich doch wohl nicht erlaubt, der meinte, wenn er nicht schriebe, müßte er sich umbringen? Gide, nun ja, dessen innere Spannungen auch nicht gering gewesen sein mußten, vor der Algerienreise, wäre womöglich in eine bedrohliche Krise geraten, hätte er mit dem Schreiben nicht „sublimiert“. Der alte Sigmund. Mit achtzehn, neunzehn Jahren, als andere, wenn bei weitem auch nicht alle, der Gleichaltrigen ihren hetero- oder homosexuellen Sex trieben, letzteren in Biberach vielleicht nicht so oft, trotz der so sexuell befreiten Endsechzigerjahre, dachte ich oft an‘s Sublimieren; die Freudsche Theorie darüber war mir bekannt. Ich begann zu schreiben, es war mir bewußt, daß ich „sublimiere“. „Ich sublimiere eben“, sagte ich mir, aber nicht kläglich, sondern selbstironisch. Längst hatte ich mir angewöhnt, alles Sexuelle mit milder Ironie zu bedenken. Dafür war ich eigentlich zu jung. Das war unnatürlicher als unnatürlicher Sex. In der Theorie, auch der schwulen, war ich typischerweise – das war typisch für mich – immer gut. Seit 1969 las ich, in „Konkret“ und „Twen“, Artikel über’s schwule Sein, der Paragraph, und man sollte heute nicht ganz vergessen, wie hinderlich er für eine Identitätsfindung als junger Schwuler war und auch noch lange blieb, war ja 1969 reformiert worden, obwohl er ganz verschwinden muß, das wäre wichtiger als die spießige Heiratsmanie der „modernen“ Schwulen von heute, solche Artikel durften also erscheinen und sogar gelesen werden, wenn es auch angeraten schien, dies nicht in aller Biberacher Öffentlichkeit zu tun, und bei mir zu Hause schon gar nicht, weshalb ich sie heimlich las.
Ich las Psychologisches darüber. Ich las Literatur, in dem das Thema vorkam. Hubert Fichtes “Das Waisenhaus“, „Detlevs Imitationen, Grünspan“, „Versuch über die Pubertät“. Im Oktober 1970 saß ich drei Meter von ihm entfernt in einem Raum hinter der Aula des Wieland-Gymnasiums, wo er vor einer Handvoll gut frisierter Mittelschichtsdamen aus dem Manuskript „Detlevs Imitationen, Grünspan“ las. Die Damen waren über das, was sie zu hören bekamen, nicht erfreut. Fichte, mit schwarzer Lockenmähne und Vollbart und Ringen an den Fingern, zuckte nur mit den Schultern und verteidigte seinen Text sichtlich gelangweilt. Bei der Besprechung für das SF-Lexikon im Lektorat von Fischer 1975 fragte ich die Lektorin, ob ich den soeben erschienenen Band „Der gewöhnliche Homosexuelle“ von M. Dannecker, die damals erste repräsentative Befragung schwuler Lebensumstände, der bei ihr herumlag, haben könnte (ich hatte dafür kein Geld); sie gab ihn mir. Ich las dieses Theoretische in Stuttgart, konnte mich praktisch aber nicht dazu entschließen, Schwulenbars zu besuchen. Nun hätte ich, anders als in Biberach, ja Gelegenheiten, nicht nur in Bars, gehabt. Ich zog es vor, darüber zu lesen und zu reden. Nach außen tat ich sehr selbstbewußt, aber ich war gehemmt und verklemmt. Ich verwünschte meine vornehme, „anständige“ Zurückhaltung, die nur Feigheit war, konnte aber nicht über meinen Schatten springen. Ich war gar nicht emanzipiert. Es war ein verquerer Stolz, der mich beherrschte.
Als ich Till kennenlernte, lief ich kühl distanziert, narzißtisch, äußerst wählerisch, unglücklich und mit Schönheitsbedürfnis und heimlichen Sehnsüchten durch’s kleine Biberach; mit Frust im Bauch und im Kopf, der sich auch meiner unerfreulichen Jobsituation und der Vernachlässigung der Schriftstellerei verdankte – die wiederum durch die erotische Mangelsituation, die alles überdeckte, hervorgerufen war – und mich in manchen Stunden zum Äußersten hätte treiben können und den Alkoholkonsum seit Jahren kräftig befördert hatte. Durch eine Kleinstadt mit zu wenig gut aussehenden Jungs, in der der Mangel an Gelegenheit zum Dauerzustand geworden war; und in der ich in früheren Jahren, vor dem Ausflug nach Stuttgart, in meiner Rücksichtnahme auf mütterliche Moral und die Rolle als DKP-Kommunist mir zusätzliche Hürden baute – in einer Kleinstadt mit 30 000 Einwohnern, die zu bald siebzig Prozent aus CDU-Wählern bestand.
Till mochte Frauen, war bi. Er bekam Bedenken, wir lebten in – s. o.; das Städtchen, die junge Szene, war zu überschaubar. Wir trafen uns seltener, dann nach längeren Pausen. Manchmal vergingen Wochen, ich hatte das Gefühl, daß er sich mir entzog. Er ging zur Bundeswehr. Daß er nicht verweigerte fand ich etwas eigenartig, aber er war manchmal eigenartig. Aus Wochen wurden Monate. Ich war säuerlich. Meine Nerven hatten schon gelitten und litten wieder. Jemand sagte: „Du kannst mit deinen Gefühlen nicht umgehen“. Wie richtig, und es ging noch weiter so. Till hielt sich an die Zeile der Berliner Gruppe „Ideal“: „Zu viel Gefühl, da bleib ich kühl.“ Zu Beginn unserer Freundschaft – oder wie sollte man das nennen; eine „Beziehung“? – sagte er: „Biberach ist keine Stadt für Schwule.“ Wußte ich schon, entgegnete: „Dann wird es Zeit dafür.“ Im Herbst 1983 war ich enttäuscht und wütend. Mein Stolz war verletzt, so ging man nicht mit mir um. Ich war nur mit Vorsicht zu genießen. Wieder nahm ich meine Gefühle zu ernst. Der Job zwang mich in die tägliche und nächtliche Maloche, sechs Tage die Woche und am Wochenende, und ließ mir keine Zeit, mich umzusehen und abzulenken. Ich lebte mönchisch, wie ehedem, ora et labora; das „ora“ fiel aus, denn zum Schreiben, eine Art Gebet, kam ich so gut wie gar nicht, auch die Musen hatte mich, der ich für sie nie Zeit hatte, was Tills Vorwurf einmal gewesen war, verlassen; ich hängte dem „ora“ ein „l“ wie „Lustersatz“ an, frönte Wein und Whisky und lutschte Zigaretten.
Es verläpperte sich. Er hatte etwas ausprobiert, so viel war mir klar geworden. Zeit verging. Sehr selten kam er noch; dann nicht mehr. Die Gefühle für Till beruhigten sich, was mich nicht glücklicher machte, auch sie hatten sich dem grauen Sediment der in früherer Zeit aufgewühlten, dann niedergesunkenen und inzwischen versteinerten Empfindungen zugelagert. Weil sie heftig um sich schlugen, als sie abstarben, hatten sie einige Verwüstungen mehr im zarten Innenleben hinterlassen. Nach etlichen Jahren tauchte T. aus den still und ereignislos gewordenen Wassern noch einmal auf. Er war schon lange aus Biberach fort gegangen. Auch dieses Mal fürchtete ich mich vor dem Virus. Was wußte ich denn von seinem Leben? Wo ist er jetzt?
- Bis weit in den Vormittag hinein schlug der von hinten zu betrachtende Neger auf die bebaute Landschaft nieder, bis Ennos sich durchkämpfte, aber unterlag, vorerst; später durfte er sich ab und zu zeigen. Dann wurde er endgültig vom Neger vertrieben, der allerdings abends weiter gezogen war.
7.3.2002
Probleme machte ich mir selber. Ich war hübsch und gut gebaut, überall, aber auch reichlich narzißtisch. Manfred S., der damals in linksagitatorisch-plakativer Weise mit Plakafarben malte, hängte zu seinen Bildern einer Sammelausstellung in der städtischen „Galerie in der Unteren Schranne“, die sich im selben Haus wie die Stadtbibliothek, im ersten Stock, befand, mein Portrait mit dem Titel „Nar(r)ziß“ an die Wand, und ich sah dort wieder blendend aus, war von mir selbst angetan; der Kulturredakteur des örtlichen Blattes, der schon erwähnte D., fragte Herbert K., der sich in seinen Biberacher Jahren den Lebensunterhalt als Schriftsetzer bei der „Schwäbischen Zeitung“ verdiente, erstaunt: „Ist der Diedrich ein Narzißt?“ Sehr lange dunkle Haare umwallten mein Edelmenschenhaupt.
Im Sommer meines Coming outs schrieb ich eine Erzählung von an die achtzig Seiten mit dem an Flaubert anspielenden Titel „Die Formierung der Gefühle“, in dem ich die Phase einer ersten erotischen Verwirrung, die mich für eine gewisse Spanne Zeit beschäftigte, thematisierte, und linke Aktivitäten, Reisen in Großstädte und Narzißmus waren die Zutaten. Ich schickte sie an einen bekannten Verlag und bekam sie auch wieder zurück. Wenn ich mich nicht irre, erhielt ich die Reinschrift, die ich 1977 einmal jemandem auslieh, in alkoholisiertem Zustand, weshalb ich dann auch nicht mehr wußte, wer sie hatte, nie mehr, nur die Erstfassung entdeckte ich vor dem Umzug nach Berlin. Ich mußte diesen Text – wahrscheinlich die erste schwule Erzählung, die je in Biberach an der Riß geschrieben wurde – schreiben. Ein undefinierbarer leichter Schmerz in der Blinddarmgegend belästigte mich. Eines Abends ließ ich mich vom „Strauß“ ins Krankenhaus fahren und dort untersuchen, wobei nichts herauskam. Der Schmerz war geblieben. In Selbstdiagnose erkannte ich, daß dies ein psychosomatisches Signal war. Ich mußte Druck aus mir lassen. Ich begann diese Erzählung zu schreiben. Parallel dazu las ich Proust. Während des Schreibens, wochenlang, biß mich stets dieser kleine Schmerz. Ich gewöhnte mich an ihn. An einem Wochenende, für das ich aus Stuttgart nach Biberach gefahren war, schrieb ich den Text fertig. Am folgenden Tag war der Schmerz, der mich über den Sommer begleitet hatte, verschwunden, ich spürte ihn nie wieder. Diese Erzählung war mein Coming out, einfach davon reden genügte in meinem Fall nicht, ich mußte davon schreiben.
Wenn Schriftsteller schreiben, daß sie schreiben „müssen“, sollte man dem aber keinen allzu großen Wert beimessen. Diese Behauptung hält einer eingehenden Prüfung selten stand. Es mag sein, wie bei mir, daß beim einen oder anderen eine wirklich vorhandene existentielle Not Ursache für sein Schreiben war oder ist. Bei den gut genährten, mit ein paar ersten Erfolgen etikettierten heterosexuellen Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus einer passabel situierten Mittelschicht ist das eher Prätention, was dann umso deutlicher zutage tritt, betrachtet man die Stoffe, die aus diesem „Muß“ entstehen. Aber, gut, es gibt diese Ursachen. War es nicht Gide oder wer war es, und Gide war es wahrscheinlich nicht, denn diese Abgeschmacktheit hätte er sich doch wohl nicht erlaubt, der meinte, wenn er nicht schriebe, müßte er sich umbringen? Gide, nun ja, dessen innere Spannungen auch nicht gering gewesen sein mußten, vor der Algerienreise, wäre womöglich in eine bedrohliche Krise geraten, hätte er mit dem Schreiben nicht „sublimiert“. Der alte Sigmund. Mit achtzehn, neunzehn Jahren, als andere, wenn bei weitem auch nicht alle, der Gleichaltrigen ihren hetero- oder homosexuellen Sex trieben, letzteren in Biberach vielleicht nicht so oft, trotz der so sexuell befreiten Endsechzigerjahre, dachte ich oft an‘s Sublimieren; die Freudsche Theorie darüber war mir bekannt. Ich begann zu schreiben, es war mir bewußt, daß ich „sublimiere“. „Ich sublimiere eben“, sagte ich mir, aber nicht kläglich, sondern selbstironisch. Längst hatte ich mir angewöhnt, alles Sexuelle mit milder Ironie zu bedenken. Dafür war ich eigentlich zu jung. Das war unnatürlicher als unnatürlicher Sex. In der Theorie, auch der schwulen, war ich typischerweise – das war typisch für mich – immer gut. Seit 1969 las ich, in „Konkret“ und „Twen“, Artikel über’s schwule Sein, der Paragraph, und man sollte heute nicht ganz vergessen, wie hinderlich er für eine Identitätsfindung als junger Schwuler war und auch noch lange blieb, war ja 1969 reformiert worden, obwohl er ganz verschwinden muß, das wäre wichtiger als die spießige Heiratsmanie der „modernen“ Schwulen von heute, solche Artikel durften also erscheinen und sogar gelesen werden, wenn es auch angeraten schien, dies nicht in aller Biberacher Öffentlichkeit zu tun, und bei mir zu Hause schon gar nicht, weshalb ich sie heimlich las.
Ich las Psychologisches darüber. Ich las Literatur, in dem das Thema vorkam. Hubert Fichtes “Das Waisenhaus“, „Detlevs Imitationen, Grünspan“, „Versuch über die Pubertät“. Im Oktober 1970 saß ich drei Meter von ihm entfernt in einem Raum hinter der Aula des Wieland-Gymnasiums, wo er vor einer Handvoll gut frisierter Mittelschichtsdamen aus dem Manuskript „Detlevs Imitationen, Grünspan“ las. Die Damen waren über das, was sie zu hören bekamen, nicht erfreut. Fichte, mit schwarzer Lockenmähne und Vollbart und Ringen an den Fingern, zuckte nur mit den Schultern und verteidigte seinen Text sichtlich gelangweilt. Bei der Besprechung für das SF-Lexikon im Lektorat von Fischer 1975 fragte ich die Lektorin, ob ich den soeben erschienenen Band „Der gewöhnliche Homosexuelle“ von M. Dannecker, die damals erste repräsentative Befragung schwuler Lebensumstände, der bei ihr herumlag, haben könnte (ich hatte dafür kein Geld); sie gab ihn mir. Ich las dieses Theoretische in Stuttgart, konnte mich praktisch aber nicht dazu entschließen, Schwulenbars zu besuchen. Nun hätte ich, anders als in Biberach, ja Gelegenheiten, nicht nur in Bars, gehabt. Ich zog es vor, darüber zu lesen und zu reden. Nach außen tat ich sehr selbstbewußt, aber ich war gehemmt und verklemmt. Ich verwünschte meine vornehme, „anständige“ Zurückhaltung, die nur Feigheit war, konnte aber nicht über meinen Schatten springen. Ich war gar nicht emanzipiert. Es war ein verquerer Stolz, der mich beherrschte.
Als ich Till kennenlernte, lief ich kühl distanziert, narzißtisch, äußerst wählerisch, unglücklich und mit Schönheitsbedürfnis und heimlichen Sehnsüchten durch’s kleine Biberach; mit Frust im Bauch und im Kopf, der sich auch meiner unerfreulichen Jobsituation und der Vernachlässigung der Schriftstellerei verdankte – die wiederum durch die erotische Mangelsituation, die alles überdeckte, hervorgerufen war – und mich in manchen Stunden zum Äußersten hätte treiben können und den Alkoholkonsum seit Jahren kräftig befördert hatte. Durch eine Kleinstadt mit zu wenig gut aussehenden Jungs, in der der Mangel an Gelegenheit zum Dauerzustand geworden war; und in der ich in früheren Jahren, vor dem Ausflug nach Stuttgart, in meiner Rücksichtnahme auf mütterliche Moral und die Rolle als DKP-Kommunist mir zusätzliche Hürden baute – in einer Kleinstadt mit 30 000 Einwohnern, die zu bald siebzig Prozent aus CDU-Wählern bestand.
Till mochte Frauen, war bi. Er bekam Bedenken, wir lebten in – s. o.; das Städtchen, die junge Szene, war zu überschaubar. Wir trafen uns seltener, dann nach längeren Pausen. Manchmal vergingen Wochen, ich hatte das Gefühl, daß er sich mir entzog. Er ging zur Bundeswehr. Daß er nicht verweigerte fand ich etwas eigenartig, aber er war manchmal eigenartig. Aus Wochen wurden Monate. Ich war säuerlich. Meine Nerven hatten schon gelitten und litten wieder. Jemand sagte: „Du kannst mit deinen Gefühlen nicht umgehen“. Wie richtig, und es ging noch weiter so. Till hielt sich an die Zeile der Berliner Gruppe „Ideal“: „Zu viel Gefühl, da bleib ich kühl.“ Zu Beginn unserer Freundschaft – oder wie sollte man das nennen; eine „Beziehung“? – sagte er: „Biberach ist keine Stadt für Schwule.“ Wußte ich schon, entgegnete: „Dann wird es Zeit dafür.“ Im Herbst 1983 war ich enttäuscht und wütend. Mein Stolz war verletzt, so ging man nicht mit mir um. Ich war nur mit Vorsicht zu genießen. Wieder nahm ich meine Gefühle zu ernst. Der Job zwang mich in die tägliche und nächtliche Maloche, sechs Tage die Woche und am Wochenende, und ließ mir keine Zeit, mich umzusehen und abzulenken. Ich lebte mönchisch, wie ehedem, ora et labora; das „ora“ fiel aus, denn zum Schreiben, eine Art Gebet, kam ich so gut wie gar nicht, auch die Musen hatte mich, der ich für sie nie Zeit hatte, was Tills Vorwurf einmal gewesen war, verlassen; ich hängte dem „ora“ ein „l“ wie „Lustersatz“ an, frönte Wein und Whisky und lutschte Zigaretten.
Es verläpperte sich. Er hatte etwas ausprobiert, so viel war mir klar geworden. Zeit verging. Sehr selten kam er noch; dann nicht mehr. Die Gefühle für Till beruhigten sich, was mich nicht glücklicher machte, auch sie hatten sich dem grauen Sediment der in früherer Zeit aufgewühlten, dann niedergesunkenen und inzwischen versteinerten Empfindungen zugelagert. Weil sie heftig um sich schlugen, als sie abstarben, hatten sie einige Verwüstungen mehr im zarten Innenleben hinterlassen. Nach etlichen Jahren tauchte T. aus den still und ereignislos gewordenen Wassern noch einmal auf. Er war schon lange aus Biberach fort gegangen. Auch dieses Mal fürchtete ich mich vor dem Virus. Was wußte ich denn von seinem Leben? Wo ist er jetzt?
- Bis weit in den Vormittag hinein schlug der von hinten zu betrachtende Neger auf die bebaute Landschaft nieder, bis Ennos sich durchkämpfte, aber unterlag, vorerst; später durfte er sich ab und zu zeigen. Dann wurde er endgültig vom Neger vertrieben, der allerdings abends weiter gezogen war.
7.3.2002
07.03.