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Mrz

5.3.2002

Ich habe nicht abgeschworen? Wie kann ich das behaupten, wo ich mich doch seit der Mitte der siebziger Jahre nicht mehr „gesellschaftlich engagiere“? Letztes Jahr besuchten Manfred Schmidt und ich zweimal die „Gedenkstätte der Sozialisten“ in Berlin-Lichterfelde, aber nicht Ulbricht und die anderen wollten wir beehren, sondern Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts gedenken; im Sommer und am 3. Oktober, natürlich am 3. Oktober, nur Manfred und ich und sonst niemand drum herum, und Manfred legte rote Nelken auf Rosas Grab. Aber was kann das sagen? Soviel jedenfalls, daß wir nicht vergessen haben, was uns der Sozialismus einer Rosa Luxemburg und eines Karl Liebknecht bedeuteten und womöglich noch immer bedeuten, und nicht nur ihrer; daß wir nicht vergessen haben, wer sie umbrachte und wer auch heute noch nicht will, daß dieser jüdischen Sozialistin in Berlin das angemessene Mahnmal gebaut wird und auch nicht vergessen haben, wer ihr Denkmal von Mies van der Rohe 1933 zerstörte. Ich vergesse auch nicht die jungen Nazis, die in den Landschaften, in denen für vierzig Jahre ein Sozialismus, unter Voraussetzungen, die Nationalsozialismus – der einzige Sozialismus, den die Deutschen mochten - und Stalinismus mit ihren monströsen Verbrechen bildeten, exerziert wurde, der, nicht zuletzt wegen dieser Voraussetzungen, zugrunde gehen mußte, in alter Sumpfblütenpracht sauber gewaschen nach Deutschland stinken. Ich will aber schon wieder keinen Essay über die Deutsche Einheit und den Kapitalismus als solchen schreiben.
Ich habe insofern nicht abgeschworen, als ich mich der anderen Seite, die ich noch als solche sehe, nicht andiente. So wenig Kompromisse mit dieser Gesellschaftsform wie nur möglich, nahm ich mir damals vor, aber war die Gleichgültigkeit, in der ich „danach“ zu leben begann, nicht der größte Kompromiß, zugunsten der anderen Seite? Ich bin geworden, was ich kritisierte: pessimistischer Intellektueller, der von der verändernden Kraft der „Massen“ nichts hält, weil er zu wissen meint, daß „die Masse“, wenn sie die Möglichkeit hatte, zwischen „Fortschritt“ und „Reaktion“ zu wählen, noch stets die Reaktion vorzog. Ich bin mir sehr im klaren darüber, daß Bildung und Erkenntnis finanzielle Quellen haben. Auch ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen und geblieben. Fast ist es ein Glück, daß sie eben nichts zu wählen hat; wenn sie wählen geht, und sofern sie das tut. Das hört sich nicht nur nach dem üblichen Zynismus nach Enttäuschung an, sondern auch ziemlich undemokratisch, und das ist solch eine Haltung wohl auch, und das war sie vermutlich auch damals, denn es war ja die „Avantgarde“ der Arbeiterklasse, Partei und Elite derselben, die dem Fußvolk der Nachhut beibrachte, wo es lang gehen sollte und durfte. Das jedoch kann der Vorwurf an alle Parteien, auch bürgerlichen, sein, und zieht deshalb nicht und zog auch damals nicht, als bestimmte Meinungsmacher dachten, es sei schon eine gloriose Idee, dies zu ironisieren, oder, erinnert man sich an all das Gegeifer, in öder Erregung bierernst – mit deutschem Bier und wenig Ernst im Schädel – herauszuplärren. Ich gestehe, ich sehe für die bürgerliche Fernsehdemokratie nicht viel Zukunft. Oder so: die bürgerliche, die kleinbürgerliche Demokratie – schon im alten Athen war nicht jeder gleich und frei – wird untergehen, die Fernsehdemokratie bleibt. So ist man also geblieben, was man, was ich, eigentlich schon immer war, und einer aus dem Umkreis jener Zeitschrift, ein ganz Strammer, warf mir ja auch 1970 vor, ich sei „Schöngeist“: bindungsunwilliger Kleingeist, der sich Intellektueller nennt und sich weder für das eine noch das andere Angebot entscheiden kann und will, weil beide ihm nicht gefallen. Zu etepetete, und für genau diese uralte Haltung des sich Raushaltenwollens bezieht man Prügel und Kugeln seit alters her, von beiden Seiten. Der Mensch muß sich entscheiden. Muß er das? Durchaus, er muß, auch wenn es ihm nicht behagt. Wenn er dann so tun muß, als behagte es ihm, dann gibt es in aller Regel einen unschönen Schluß.
Mit diesem Thema sind Bibliotheken gefüllt worden, und trägt man Sozialismus und Kapitalismus und die Deutsche Frage dazu, wird man von allem begraben; lebendig begraben; und um das nicht zu sein, um all der Widersprüchlichkeit, die sich als Dialektik schön macht, nicht ausgeliefert zu sein, möchte man allem entfliehen – wohin? Es gibt keinen Ort und keine Zeit, so lange Menschen leben, wo man vor diesem Wust sicher wäre. Für was also entschied ich mich? Ich hatte keinen Bock mehr. Für den Rückzug aus einem aussichtslosen Unterfangen, in dem man sich verschliß, wenn man nicht acht gab, in ein „Privatleben“, in das genug vom „Öffentlichen“ Zutritt hatte, um das Menschenbild realistisch zurechtrücken zu können. Die Skepsis befürwortete eine Indifferenz gegenüber den Großen Erzählungen, mit denen ich nicht mehr viel anzufangen wußte. Ich hatte genug Probleme und für die Verbesserung des fragwürdigen Menschengeschlechts durch Klassenkampf, Sozialdemokratisierung oder Vergrünung nicht viel übrig. Kürzlich jedoch wählte ich, der ich zu fast keiner Wahl mehr ging, PDS; was hat denn das zu bedeuten?
- Die Stadt war wie in eine große graue Schachtel gesteckt.
5.3.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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