22
Feb

22.2.2002

Für den 21. Februar wurden die Verwandtschaft und die besten Bekannten, unter ihnen die zwei oder drei Freundinnen, die als solche bezeichnet werden konnte (aber oft sind die Abgrenzungen zwischen Bekanntschaft und Freundschaft oder umgekehrt ja gar nicht so genau festzulegen), der engere Kreis eben, zu Kaffee und Kuchen am Nachmittag und zum Abendessen eingeladen. Zwischen 1962 und 1972, also vom 40. bis zum 50. Geburtstag meiner Mutter, waren diese Gesellschaften am größten, an die nach ihrem 50. kann ich mich kaum entsinnen, was eigenartig ist; ich glaube schreiben zu können, daß an den Einladungen danach weniger Gäste teilnahmen, und je älter sie wurde, umso weniger „machte sie her“. Auch daran waren Enttäuschungen beteiligt, eine quälende innere Einsamkeit – darf ich das so schreiben, ohne ungerecht und unwissend zu urteilen? – und Erschöpfung. (Gestern vor dreißig Jahren war meine Mutter fünfzig Jahre alt geworden, so alt, wie ich letzten September wurde – und diese Überlegung kommt mir wieder einmal eigentümlich vor. Hatte auch sie sich so gar nicht fünfzig-jährig gefühlt? Als junger Mensch kann man sich ja nicht vorstellen, wie wenig das innere Leben, mit allem, was dazugehört, eben auch die nicht angenehmen Erfahrungen, deren Grundmuster man in aller Regel schon in jungen Jahren kennen lernt, und danach sind die „neuen“ dies bezüglichen Erfahrungen nur Variationen in verschiedenen Stärken, mit den Kalenderjahren mitkommen möchte; der Charakter, so wird ja behauptet, stünde spätestens mit fünfundzwanzig Jahren als der fest, als der er bis dahin Zeit zur Entwicklung gehabt hätte, und danach sei der Mensch geformt, Glück und Unglück später hätten viel weniger Einfluß als allgemein angenommen würde.)
Ich kann nur für mich sprechen und sage, daß sich mein Lebensgefühl aus dem Erstaunen ableitet, mit den Jahren überhaupt nicht irgendwie „älter“ geworden zu, gesetzter, „reifer“. Ich denke und verhalte mich kaum verändert (ein paar Abstriche hat man gemacht, um den Körper, diese Voraussetzung des trotz aller Selbstanfechtungen geschätzten „Ich“, weniger zu strapazieren, und bestimmten Ideen glaubt man auch nicht mehr so kategorisch, und das sind fast alles Ideen über das Menschsein an sich und nicht nur politische), wenn ich (innere) Bilder von mir aus den Siebzigern ansehe. Oder kann man sich auch darin so sehr täuschen, und man wäre, heute als Zwanzigjähriger, befremdet und gelangweilt von dem Fünfzig-jährigen, den man da vor sich sieht und der einem vormachen will, er wäre man selbst und dächte, was man denkt?
Oft schien in diese Geburtstagsfebruartage, sagen wir der Jahre zwischen 1965 und 1970, die Sonne so hell über Biberach wie gestern über Berlin, und es war kalt wie gestern; oder dicht stäubte der Schnee nieder, so wie heute, und es war dann – nachdem der Schnee seinen weißen Belag auf alles gelegt hatte, durch den die Geburtstagsgäste nach und nach, vom Fenster aus schon erwartet und beobachtet, herbeistapften und auch aus dem steilen Weg, der von der Gaisentalstraße zwischen Häusern und Gärten hinauf zur Gartenstraße führt, hervortraten und auf’s Haus Lindelestraße 2 zukamen – grau geblieben; aber im Wohnzimmer, wo die zwei großen schlichten Eßtische – einer von ihnen steht neben meinem Schreibtisch und dient als Ablagefläche, den anderen verkaufte Frau H. im Winter 1984 für mich an einen Interessenten – mit ausgezogenen Tischplatten im rechten Winkel zueinander aufgestellt worden waren, mit vierzehn oder sechzehn, auch zwanzig Stühlen darum herum, die immer irgendwie zusammengetragen wurden (notfalls wurde von den Mietern im Hochparterre ausgeborgt), waren die Lampen dann schon eingeschaltet und machten den angenehm temperierten Raum gemütlicher, und zwischen all dem Aufgetischten und dem „guten“ Kaffeegeschirr erzitterten die sanft vibrierenden Kerzenflammen mit jedem Öffnen der Tür; und war der Tag sonnig gewesen, glomm durch das Westfenster in röter dunkelnden Rosafarben die Dämmerung.
- Bis zum Nachmittag Schneegestöber, dicht, das in der Mitte des Nachmittags zu sehr dünnem Regen wurde, der den Schnee wieder zu schuh-sohlenhoch liegendem Matsch verwandelt.
22.2.2002 (!)
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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