14
Feb

14.2.2002

Im Spätsommer 1976 hätte ich mir ein Auge ausschlagen können. An einem Abend becherte ich bei Erich H., Freund von Sabine R., die im Wohngemeinschaftshaus Karpfengasse 24 zu verkehren begonnen hatte, Bacardi-Cola, und da E. wußte, daß ich gerne einen zur Brust nahm, schenkte er großzügig nach, mehr Baccardi, weniger Cola. Ich war abgefüllt, als ich spätabends in mein Zimmer – ich bezeichnete es später stets als das „hintere“, denn ab Januar 1977 bewohnte ich das nach vorn zur Gasse hin, das größte des Hauses – in der WG torkelte und von der Tür Richtung Schreibtisch segelte und die schon innige Bekanntschaft mit ihm noch einmal intensivierte. Das Ergebnis der heftigen Annäherung warf mich zu Boden. Knurrend rappelte ich mich auf, wankte zum Spieglein an der Wand und stellte eine blutunterlaufene Stelle am rechten Wangenknochen fest. Die Haut war nicht einmal aufgerissen. Das Auge war noch drin, also legte ich mich erst einmal hin und schloß beide. Einige Wochen danach, dieser Bluterguß war schneller als erwartet abgeheilt, erteilte mir Holden Panama Johnson, mein Langhaarkater, den ich erst im Juni als Katerchen zu mir genommen hatte, als Elian F.-U., eine Freundin, ihn zu mir gebracht hatte, eine Lektion mit seiner Tatze, als ich, besäuselt, ihn ungeschickt anfaßte. Wutsch, haute er mir seine Krallen neben das Auge. Seltsamerweise war wieder das rechte gefährdet gewesen. Auf dem rechten Auge war ich nie blind. Wollte das Unheil, daß ich es werde? Das Leben kann dadurch durchaus einfacher sein. Dann wäre es aber nicht das Unheil, sondern eine wohlmeinende gute Macht gewesen, wenn es so gekommen wäre? So, wie es blieb, nämlich bei beiden Augen, war und ist es mir viel lieber, wenn auch meine Menschenliebe davon nicht profitierte, denn mit zwei Augen sieht man eben schärfer und mehr. Ich nahm es dem Kater nicht krumm, ich nahm es als Lektion für den ständigen Suff.
Die vorletzte dieser Bedrohungen durch nicht korrekte Kräfte trat vor der Mitte der neunziger Jahre auf. Wenn ich mich nicht sehr täusche, was hin und wieder doch geschieht, in den Februartagen der Berlinale. Denn in dieser Zeit des Jahres fuhr (und fährt) der Kinobesitzer, Kinoverbandspräsident und Gremienlobbyist K., in dessen Betrieb ich jene sechzehn Jahre meiner Festangestelltentätigkeit zubrachte, regelmäßig nach Berlin, um die volle Dauer der Filmfestspiele über dort zu bleiben. (Heute könnte ich schreiben: ... hier zu bleiben.) Es war immer eine schöne Zeit, für uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Ist er schon weg?“, fragte man mich, denn ich kam häufig zwischen den beiden Kinohäusern hin und her, und einen Tag danach lautete die Frage: „Wie lange ist er weg?“, denn ich war immer darüber informiert, bis wann die Berlinale währte. Aber solche Fragen werden in jedem Betrieb gestellt, in dem die Belegschaft Gründe zum Aufatmen hat, und die hat sie überall.
Wie alles hatte auch diese Abwesenheit eines Chefs ihre Vor- und Nachteile. Einer der Nachteile war der, daß ich dann, obwohl in den letzten Jahren meiner Arbeit dort nicht mehr jede Nacht während der Chefabsenz, die ehrenvolle Aufgabe hatte, das „Urania“-Kino abzuschließen, was bedeutete, daß ich auch während der Woche, in der die Vorstellungen der beiden unteren Kinos gegen 23 Uhr, selten später, beendet waren, auf das Ende des Films im berühmten „Sternchen“ oben im Gebäude warten mußte, denn im „Sternchen“ wurden bis in die erste Zeit der neunziger Jahre hinein Spätvorstellungen gezeigt. Erst als zu ihnen gar niemand mehr kam – viele Jahre waren auf dieser „Nachtschiene“ besonders filmkunsthaltige Werke gespielt und auch gut besucht worden – und es offenkundig war, daß ein Publikum für Nachtvorstellungen unter der Woche nicht mehr existierte, waren diese auch im mit 1. Bundes- und Landeskinofilmpreisen hochdekorierten „Sternchen“ auf die Wochenenden reduziert worden. Dieses Kino ist – den Biberachern muß ich es nicht sagen – auch ein Gastronomiebetrieb. Essen und Trinken. Rauchen; früher. Einige der Damen, die dort bedienten, hatten zur gleichen Zeit wie ich angefangen, nach 1978.
Eine von ihnen, Meli H., nahm mich eines Nachts, als endlich alles abgerechnet und abgeschlossen war, einmal mehr in ihrem Auto mit auf den Mittelberg, wo sie wohnte, und weil es zum Hühnerfeld dann auch nicht weit ist, fuhr sie stets, wie übrigens auch andere „Sternchen“-Damen, die nicht unbedingt in jener Gegend wohnten, mich sehr oft generös durch die Nacht chauffierten, vor den Wohnblock, in dem ich im fünften Stock mein Appartement behauste.
Samstagnacht gegen ein Uhr dreißig also fuhren wir durch die Waldseerstraße. Kein Auto, kein Mensch unterwegs. Zu dieser Stunde schläft Biberach längst. Wir wollten nach Hause. Wir plauderten. Meli fuhr zügig auf die große Straßenkreuzung zu, die dort von der Waldseerstraße und der Königsallee, die erhöht auf einer langen Brücke von Ost nach West führt, bis sie sich zweihundert Meter vor dieser Kreuzung auf ebenen Boden begibt, gebildet wird. Mein Blick zur Seite, zur Fahrerin, beim Reden irrte ein wenig ab und voraus, über die nächtliche Szenerie, und erhaschte ein weisses Auto, das rasend schnell von links nach rechts auf der Querstraße vorn näher kam. „Anhalten!“ schrie ich nur. Meli trat ohne Zögern auf die Bremse. Ihr Auto brauchte seinen Bremsweg. Als es stand, in dieser Sekunde, preschte das weiße Auto keinen Meter vor uns in unverminderter Geschwindigkeit vorüber. Zwei bleiche Gesichter, Untoten ähnlich, eins vorn, eines hinten, starrten uns durch jene Autofenster blöde an, und schon war das Auto mit pfeifenden Reifen in der Kurve, in der die Königsallee von der Kolpingstraße fortgeführt wird, verschwunden. Meli und ich saßen im Auto und sagten erst einmal nichts. Dann sagte Meli etwas wie: „Junge, Junge“, und ich sagte etwas wie: „Nicht zu fassen, was für Penner!“ Dann sagte Meli: „Danke, KD.“ Wir hätten tot sein können. Die anderen auch – wenn sie es nicht schon waren. Ein paar Tage danach überreichte Meli mir eine Flasche Wein (die Freunde tranken) mit den Worten: „Für den aufmerksamen Beifahrer.“
- Viel Sonne. Kälter als gestern.
14.2.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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