11.2.2002
Die „Swinging Sixties“ fanden in Biberach für mich im Radio statt. Sonst sah und hörte man von ihnen nicht viel. Biberach war mausgrau und lag etwas im stillen Winkel und hatte idyllische Eigenschaften, vor allem dann, wenn sich im Hochsommer der tiefblaue, von weißen Bauschwolken besegelte Himmel über Oberschwaben, dessen sanfte ländliche Stimmung in solchen Wochen und Monaten am deutlichsten an den Tag und in ihn trat, spannte, und in schneereichen Wintern die alten Gassen und Häuser, der ganze Stadtkern samt der hügeligen Umrahmung sich ihre fast mittelalterlich anmutende Gestalt anlegten. Alles ging – zumindest bei einigen über die Straße schreitenden Einwohnern war es deutlich zu beobachten – beschaulich vor sich hin und erst Ende der sechziger Jahre bekamen diese auch mit noch recht ländlicher Charakteristik ausgeführten Bilder, in denen die Biberacher Art zu leben sich zeigte, eine andere und neue Farbe hinzugefügt, ein stärkere, grellere, denn Rock und Pop und (linke) Politik, die rebellischen Jahre der Außerparlamentarischen Opposition, waren spätestens 1968 auch im kleinen Biberach angekommen. Rock- und Popmusik schallten aus dem Radio, die Politik stand in der Zeitung und im April 1968 dann auch unübersehbar auf dem Marktplatz ... Zum Ende der Sechziger hin steckte ich den Kopf in mehrere Zeitungen und Zeitschriften, auch in die „konkret“, das Leitblatt der aufgekommenen linkspolitischen Kultur, und las „twen“, das erste Blatt in der Bundesrepublik, das einen „modernen Lifestyle“ vermittelte; dieser Begriff und die Inhalte, die er signalisieren sollte, waren aber noch gar nicht so richtig in Mode gekommen. Eine Radiosendung, die ich ab 1968 jeden Tag außer Samstag und Sonntag hörte, denn sie wurde nur von Montag bis Freitag ausgestrahlt, produzierte der Österrreichische Rundfunk, einige Wiener moderierten sie, einer von ihnen wurde später berühmt: André Heller. Er und Wolfgang Hübsch präsentierten die „progressivste“ Musiksendung, die im süddeutschen Sprachgebiet zu hören war, die „Musicbox“. In ihr hörte man neue Musik, neue Namen, von neuen Stilen, die neuesten Informationen aus der internationalen, vor allem englischen und amerikanischen, Rock- und Popszene. Mit diesem Sound von fünfzehn bis sechzehn Uhr, mit diesen popnews im Ohr erledigte ich während der Gymnasiumsjahre meine Hausaufgaben. Heller & Co. waren stets bestens informiert und spielten Platten von Gruppen, die konventionellere Sender, obwohl auch die sich mit Hitparaden und Ähnlichem um ein junges Publikum bemühten, nicht vorstellten: „The Mothers of Invention“, „The Velvet Underground and Nico“, „Grateful Dead“ und zahlreiche andere Avantgarde-Gruppen, dazu ausführliche Portraits. Diese Sendung brachte mich immer auf den aktuellen Stand, denn ein großer Leser von Musikzeitschriften war ich nie, und das Geld, das man brauchte, wollte man sich alle paar Wochen die Platte einer interessanten neuen Band kaufen, hatte ich nicht. Meine Plattensammlung war keine. Ein paar Singles der Beatles und von anderen Gruppen, „Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band“, jene wegweisende LP der Fab Four, ihr Weißes Album, dazu das eine und andere; viel hatte ich nicht, was ich mein Eigen nennen konnte. Meine Musik kam aus dem Radio, nicht aus den Plattenspielerboxen. Ich hatte auch keine. In meinem ganzen Leben, bis heute nicht, besaß ich nie eine stereophone Plattenspieleranlage. Damals war bei meiner Mutter kein Geld dafür da, dann bei mir nicht. Aber meine Mutter hatte 1966 oder schon 1965 eine „Musiktruhe“ gekauft, einen Kasten aus glänzendem dunklen Mahagoniholzfurnier, der stand auf vier staksigen Beinen, in dem ein großes Radio auf der einen Seite und ein Plattenspieler auf der anderen, der linken, eingebaut waren. Der Plattenspieler tönte die Musik aus den Radiolautsprechern. Meine Musik, wie gesagt, kam aus dem Radio. Hörte ich eine Platte, war gleichzeitiges Radiohören nicht möglich; aber wer tat das schon? In diesem Apparat – Staubhäufchen stauten sich nach kurzer Zeit an der Abnehmernadel auf – rotierten am Heiligen Abend, und nur dann und auf Wunsch meiner Mutter, die altdeutsch-allfälligen Weihnachtsliederschallplatten. Manchmal, angeregt durch die exzessive Lektüre von Westernheftromanen, legte ich die Scheibe mit den Western-Songs auf: „Do not forsake me, oh my darling ...“, das Titellied aus Fred Zinnemanns Film „High Noon“ mit Gary Cooper, den ich mir im „Filmtheater“ gleich zweimal hintereinander angesehen hatte. Die Platten der Beatles liefen aber am häufigsten, keine von den Stones, obwohl ich auch mit diesen – rockigeren – Songs etwas anfangen konnte, und Bob Dylans geniales Genäsel hörte ich noch gar nicht so oft in den Sechzigern, sondern mehr in den beginnenden Siebzigern; vor allem die Doppel-LP „Blonde On Blonde“ mit „Visions of Johanna“, „I Want You“, „Sad Eyed Lady of the Lowlands“, „Stuck Inside of Mobile With the Memphis Blues Again“ ...
- Ein Regentag.
11.2.2002
- Ein Regentag.
11.2.2002
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