7
Feb

7.2.2002

Vorgestern saß ich im Zeitungsarchiv der Staatsbibliothek, das in einem riesigen ehemaligen Getreidespeicher am Westhafen untergebracht ist, an einem der Lesegeräte für die Filme, auf denen alte, historische Zeitungen gespeichert sind, und sammelte etliche Informationen aus dem Biberacher Lokalteil der Schwäbischen Zeitung vom Jahr 1952; gestern auch. Vorgestern nachmittag sah ich meinen Namen, die beiden Vornamen, Rufnamen sagt man wohl dazu, in der Ausgabe von einem der ersten Oktobertage 1951 (denn dieses Jahr war auf den beiden Filmrollen, die das Stadtarchiv Biberach mir geschickt hatte, auch noch teilweise abfotografiert – die Zeitungen, versteht sich) und dahinter, wie bei den Namen anderer Neugeborener auch, die Bemerkung: "V.: Friedrich Diedrich, Werkmeister“. Der Bindestrich zwischen den beiden Vornamen „Klaus“ und „Dieter“ war in der Zeitung aber nicht gesetzt. Es war mir gar nicht einmal eigentümlich zumute, als ich meinen Namen dort las, der veröffentlicht wurde, als ich einen Monat alt war; jetzt, am 5. Februar 2002, das las, was Zeitungsleser im Oktober 1951 gelesen hatten. Denn wenn man es einmal genau bedenkt, sind fünfzig Winter gar keine so lange Zeit, einerseits, wenn man sie hinter sich hat, und doch umfassen sie, andererseits, ein halbes Jahrhundert, und das ist doch ein Zeitmaß, ein Zeitraum, der schon fast etwas schwer Erfaßbares meint, und als man jünger war, erschien die Aussage: „Vor einem halben Jahrhundert ...“ noch unvorstellbarer, bezeichnete etwas als in die graue Vorzeit Gehörendes, die ungefähr vor fünfzig Jahren aufhörte, oder wie?
Wenn ich daran danke, daß dreißig Jahre vor meinem Tag der Geburt, im September 1921 Proust allmählich die „Recherche“ beendete (wenn er auch noch einen Winter dafür brauchte), so kommt es mir gelegentlich in diesen heutigen Tagen doch so vor, als sei der Tag meiner Geburt vom Hauch je-ner Ära auch noch gestreift worden und gar nicht so weit entfernt gewesen, denn dreißig Jahre, das ist ja nur der Zeitraum, der zwischen meinen ersten Texten und dem, was hier in dieses Heft gekritzelt wird, sich verbreitet hat, und so groß ist dieses Gebiet nicht, ich überschaue es gut. Und weil es so überschaubar ist, erscheint es klein, und erscheint erst einmal ein solches Terrain als klein, dann machen es plötzlich die zwanzig Jahre, die man dazugibt, nicht viel größer; womöglich sollte man solche wie eben erwähnten Maßstäbe an das eigene Leben, an die eigene Spanne, gar nicht erst anlegen, denn die machen einem die Verhältnisse, die kleinen, erst richtig bewußt.
- Am Vormittag kämpften sich ein paar dünne Strahlen durch das Grau, verloren, dann tagsüber hellgraue Flecke im dunkleren Grau der Wolkendecke. Kälter.
7.2.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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