3
Feb

3.2.2002

Vorgestern, nach dem Schreiben der Notiz, fiel mir doch noch das Wort für jenen Fahrradteil hinter dem Sattel ein: Gepäckständer. Ich war schon leicht beunruhigt, daß es mir abhanden gekommen sein sollte, aber das Wort „Gepäckständer“ gehört eben zu denen, die ich nie brauche; womit sich zeigt, daß mit dem Nichtstun sich auch der Wortschatz verringert. –
Biberach war nie eine der traditionellen Fasnet-Städte des schwäbischen Oberlands und der alemannischen Region gewesen. In Biberach fanden und finden die tollen Tage nicht im Februar, sondern Ende Juni oder Anfang Juli statt, je nachdem, wie das Schützenfest, das „Biberacher Kinder- und Heimatfest“, im jeweiligen Jahr festgelegt ist. Erst ab den achtziger Jahren wurden ein paar Maskengruppen (oder wie die Leute von den „Kampagnen“ das nennen) aufgebaut, die mit anderen aus der Umgebung in einem Umzug durch die Gassen ziehen. Ich sah ihn mir nie an, vermute aber, daß er anders als die in den Fasnet-Hochburgen kümmerlich daher schleicht. Aber bitte. Die Biberacher Geschäftswelt nimmt den Faschingsdienstag jedoch seit jeher als Gelegenheit wahr, die Läden zu schließen, so daß die ganze Stadt, insbesondere die Innenstadt, wie ausgestorben wirkt, denn gerade am tollsten aller tollen Tage bemerkt man in Biberach nach wie vor – und das ist die spezielle Fasnetstradition – nichts von anberaumten Närrischkeiten, und nur Narren würden auf die Idee kommen, an diesem Tag etwas einkaufen oder auf den Ämtern erledigen zu wollen. Insofern verbindet diese Tradition sich mit der der wirklichen Biberacher Ausgelassenheit im Sommer, am „Schützendienstag“ ebenfalls alles dicht zu machen, jedenfalls nachmittags, denn auch an diesem Tag glaubt man sich gegen sechzehn Uhr auf dem Marktplatz im Zentrum eines von einer rätselhaften Seuche heimgesuchten Orts. Aber so ganz ohne Zeichen ihrer landesweiten Herrschaft im Ländle zu hinterlassen ging die Fasnet auch in früheren Jahrzehnten nicht an Biberach vorüber. Immer gab es beispielsweise die „Kinderfasnet“ in der alten Gigelberghalle, wo sich an einem Nachmittag die Jüngsten tummelten und in ihre Heldinnen- und Helden- oder einfach nur Lieblingsrollen schlüpften. Bunt sah das aus. Ich weiß es, weil ich mehr als einmal in jenen Jahren an jenen Nachmittagen von der Lindelestraße kommend an dieser Halle vorbeiging, denn dieser Weg war für mich der schnellste und idyllischste zum Marktplatz, und ringsherum strömten Kinder heran oder sie traten aus dem Halleneingang heraus, schreiend, aber vor Vergnügen und Aufregung, johlend; die bunten Kleider und Hüte, die Phantasiekostümchen belebten die in manchen Jahren schneeig-weiße, in anderen fad-winterbraune Platzszenerie.
Auch ich war in solchen Tagen einmal ein dreizehnjähriger Revolverheld. Meine unmäßige Western-Lektüre hatte mich dazu gebracht, mir gleich drei Spielzeugrevolver vom irgendwie zusammengesparten Taschengeld – für sowas gibt man eben in solchen Jahren sein bißchen Geld aus – zu kaufen, natürlich samt Halster... In die Trommeln dieser Waffen wurden kleine Ringe mit ebenso kleinen flachen Kapseln eingelegt; betätigte man den Abzug, schoß man, drehte sich, wie es nun mal das Prinzip eines Revolvers auch andernorts ist, die Trommel, der Hahn hob sich und schlug auf die vor ihn transportierte Kapsel, der Schuß knallte. Nun fällt mir ein, daß nur zwei dieser Knarren (selbstverständlich war einem versierten Karl May- und Western-Leser der Unterschied zwischen den Pistolen- und Revolverarten, ja –namen bestens bekannt) mit diesen roten Ringen bestückt wurden. Das dritte dieser halbrealistischen Mordwerkzeuge funktionierte mit kleinen Papierrollen, die, jeweils eine natürlich, in eine Kammer eingelegt wurden. Auf diesen Röllchen waren hintereinander runde „Sprengsätze“ aufgebracht; sie knallten schwächer als die der Ringe. War der Schuß gefallen, verbreitete sich vor der Nase der Geruch verbrannten Pulvers, westernmäßig.
Ein kurioses Foto, aufgenommen von meiner Mutter, zeigt einen mädchenhaften hochgewachsenen Knaben, angetan mit Skihosen (ich fuhr mein Leben lang nicht Ski), einem Pullover und einer Schiebermütze, der die Rechte auf den umgeschnallten Colt im Halfter stützt. Sehr stilgerecht. (Es gab tatsächlich Nachmittage, und nicht nur in der Faschingszeit, in denen ich, Klaus allein zu Haus, das „schnelle Ziehen“ übte.) In diesem Aufzug, es war aber sehr wahrscheinlich an einem anderen Tag, nicht an dem der fotografischen Dokumentation meiner Männlichkeitsphantasie, ging ich über den Gigelberg, denn die Kinderfasnet fand, aus welchem Grund auch immer, damals im Kolpinghaus statt. Kaum hatte ich den Saal mit all den Cowboys, Prinzessinnen, Rittern und was die Mythologien sonst noch so hergaben betreten, hatte ich sofort das starke Empfinden, am ganz falschen Ort zu sein, bekam einen roten Kopf (das geschah mir in meinem Leben nur sehr selten) und kehrte sozusagen auf dem Stiefelabsatz um. Draußen auf der Straße „schnallte ich ab“, entkleidete mich der fragwürdig gewordenen Waffenzier, steckte den Colt in eine Hosentasche, knüllte den Gurt mit dem Halfter so zusammen, daß er unter die Jacke paßte, und trollte mich nach Hause. Es war mir alles sehr peinlich. Es war mein erster und letzter Auftritt bei der Fasnet. Western las ich noch. In einem Karton auf dem Dachboden fristeten die Waffen eine Zeitlang ein allmählich immer unbeachteteres Dasein; ich weiß nicht, wohin sie eines Tages verschwanden.
- Wieder ein Tag, als würde der Frühling schon hinter den nächsten Tagen warten.
3.2.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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