31
Jan

31.1.2002

Während meine Mutter und ich durch den feuchten Abend hinüber in die Lindelestraße gingen, dachte ich: „Ich kann noch nicht sterben, ich bin doch erst elf Jahre alt.“ Es war ein Gefühl in mir ähnlich dem, das in den halbwachen Schlafwandlerminuten in mir aufkam, ein Gefühl von Unwirklichkeit und Verlorenheit. Aber so schnell, wie die Krise entstanden war, so rasch flaute sie ab; die Atompilze wuchsen nicht in den Himmel; aber keine Sorge .
Als ich am Morgen des 23. Novembers 1963 meine naßgeregnete Jacke im Klassenzimmer der Mittelschule auszog – in jenem Gebäude, das hinter dem, das „Ochsenhauser Hof“ genannt wird, stand – und die ersten Worte mit Mitschülern wechselte, erfuhr ich, daß Kennedy am Tag zuvor erschossen worden war. Es ließ mich novemberkühl. Ich war kein Heldenverehrer des strahlenden Präsidenten. Ich erinnere mich an diesen Augenblick nur, weil ich all die Jahre danach immer die nasse Jacke und den verregneten Morgen noch spürte; ich vermute, wäre der Nach-Attentatstag ein sommerlicher Tag gewesen, wäre dieser Vormittag längst im Schutt jener Tage versunken. Erst im Zusammenhang mit dem sinnlich-haptischen Gefühl der nassen Jacke an den Fingern hatte dieser Tag die Chance, aufbewahrt zu bleiben; Regen war für mich immer eine eindrücklichere Naturerscheinung als stilles Sonnenlicht. Sonne: Dur, Regen: Moll; Moll ist meine Tonart. Die „Fox-Tönende-Wochenschau“ im Kino zeigte in den Wochen danach immer wieder – ich hatte meine Liebe für’s Kino entdeckt und ging in Filme, die anzusehen „ab 12 Jahren“ erlaubt war – Aufnahmen des weltgeschichtlichen Vorfalls. Wer erschoß Kennedy? Der den Vietnamkrieg erst so richtig zum Laufen gebracht hatte und nicht die Lichtgestalt war, als die er bestaunt wurde. (Das kann in Berlin nur jemand schreiben, der kein Berliner ist.) Lee Harvey Oswald, der bald selber dran glauben mußte? Eines der bestgehüteten Geheimnisse und Verbrechen der Vereinigten Staaten.
Zwischen diesen Geschehen starb der „gute Papst“ Johannes XXIII. im Juni 1963. Auch dieser Tod konnte mich nicht beeindrucken, war er aus meiner evangelischen Sicht doch nur für die Katholiken von Bedeutung. Mein Freund H. und ich, diese Erinnerung habe ich daran, kurvten mit unseren Fahrrädern ein bißchen auf der Probststraße und vor dem K.‘schen Lebensmittelladen auf und ab und quatschten davon, etwas Despektierliches, Gerede von Jungs in solchem Alter. Ich erinnere mich an einen sonnigen Spätnachmittag, wir hockten auf Fahrrädern und redeten dummes Zeug.
- Zunächst: grau. Im späteren Vormittag kam dann der Schein der Sonne durch die graue Schicht, der schien..., aber nicht lange. Donner, Blitz und Hagel. Ein Gewitterregenguß. Danach für einige Zeit wolkenloser blauer Himmel, bald zogen große weiße Wolken dahin. Es wurde wieder trüber, aber kein Regen mehr. Wind streunte durch die Topographie.
31.1.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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