29
Jan

29.1.2002

Die Reisen in den poststalinistischen deutschen Sozialismusversuch hatten übrigens nichts dazu beigetragen, daß ich mich dem Marxismus in seiner im „Westen“ wieder interessant gewordenen Variante näherte, nach dem Jahr 1968. Das, was ich während jener Besuche und Reisen durch die Deutsche Demokratische Republik sah und hörte, ab dem Jahr 1963 (auch in den fünfziger Jahren fuhren wir, meine Mutter und ich, mehrmals in die „Ostzone“, nach Fischbach hinter Dresden) hatte mir eher den Eindruck vermittelt, in solch einem Land nicht leben zu wollen. 1963 konnten mir die weltgeschichtlichen Hintergründe noch nicht viel sagen, obwohl ich einiges aufgeschnappte, natürlich aus Verwandtenmund; 1968 war das anders. 1968 fuhren wir zu Ostern nach Radeberg, zur Konfirmation meiner Kusine, die Familie Sommer wohnte zu dieser Zeit seit ein paar Jahren dort. Ich hatte Gelegenheit, die Ghettoaufstände in den USA und das Attentat auf Rudi Dutschke im DDR-Fernsehen sehen zu können; nicht alles, was gesagt wurde, fand ich falsch. In der Schule hatte ein kleiner Kreis von Schülern so nebenbei mit einem der Lehrer über die APO diskutiert, mir ist so gut wie nichts davon im Gedächtnis geblieben, es muß mir also relativ unwichtig vorgekommen sein, aber die Zeitungen waren voll damit, jeden Tag las ich zuhause die „Schwäbische“, so rauschte das nicht alles an mir vorüber. Ich war dreizehn gewesen, als die Politik mich erreicht hatte.
Kaum waren wir aus der DDR zurück, fand in Biberach ein zweites Ereignis statt, das mein geschärftes Interesse auf sich zog: der Wahlkampfauftritt des Kanzlers Kiesinger, einer politischen Figur, die vordem Ministerpräsident von Baden-Württemberg gewesen war und, noch weiter zurückgesehen, als NSDAP-Mitglied einen Stuhl im Propagandaministerium des zur Hölle gefahrenen Dr. Goebbels besessen hatte. Einer jener in der Wolle gefärbten Nazis, die überall in Staat, Wirtschaft, Justiz, Presse saßen; seit 1945, ca., Demokraten. Die Außerparlamentarische Opposition, unter anderem deswegen notwendig geworden, weil die innerparlamentarische, damals von der SPD gebildet, nicht in der Lage war, ihre Aufgabe sinnvoll zu erfüllen, richtete sich 1968 ff. ja nicht nur gegen die Nazi-Väter und deren Verbrechen in Auschwitz und im Krieg, nicht nur gegen den „imperialistischen Krieg der USA in Vietnam“, sondern nicht weniger gegen die Verabschiedung der sogenannten Notstandsgesetze durch das mehrheitlich konservativ-reaktionäre Parlament
Am 22. April 1968 also leuchtete der oberschwäbische Himmel in frühjährlichem hellen Blau, aus dem ein freundliches Sonnenlicht schien, weiße Wölkchen zogen langsam über Biberach; und ich nahm, als ich die Wohnung verließ, den „Instamatic“-Fotoapparat (in der damals modischen Form eines kleinen Quaders), der in einem schwarzen Lederetui steckte, mit, denn ich versprach mir auf der Wahlkundgebung des Bundeskanzlers Dr. Kiesinger nicht nur beträchtlichen Auflauf, sondern auch etwas Aufruhr; ich hatte den Gedanken, die Ahnung, daß es vielleicht etwas zu fotografieren geben könnte. Von der Wielandstraße kommend betrat ich die schmale Königgasse, an deren vorderem Ausgang ich schon die Menschenmasse auf dem Marktplatz sehen konnte. Als ich dort ankam, in gespannter Erwartung, was geschehen würde, stellte ich mich zunächst, um einen Überblick zu gewinnen, an den Rand des Bürgersteigs, an die Ecke jenes Hauses, in dem ein paar Jahre danach die einzige Spielhalle (mit Flippergeräten etc.) der Stadt im Halbsouterrain eingerichtet sein sollte, in der ich – niemand weiß, was die Zukunft bringt – dann so manche Stunde an Flipper und Tischfußballgestell verbringen sollte. Vor mir, neben mir rumorte die angesammelte Bevölkerung mit dumpfem Murmeln, erstreckt sich links und rechts über fast den ganzen Marktplatz. Vor der Unteren Schranne, dem massigen, entlang der Schrannenstraße sich ziehenden mehrgeschossigen Fachwerkbau aus spätmittelalterlicher Zeit (befand sich an diesem Tag schon die Stadtbücherei in ihm?), war ein Rednerpult aufgestellt worden, und ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob der Bundeskanzler schon redete, als plötzlich inmitten der dicht stehenden Ansammlung ein Sprechchor anhub: „Wir sind eine kleine radikale Minderheit! ... Keine Notstandsgesetze!“ Ein politisch’ Lied, in den Ohren der allermeisten Anwesenden ein garstig‘ Lied wurde von der Gruppe der jungen Männer und Frauen, die jetzt auch Transparente und rote Kreuze empor hielten, nach der Melodie des „Maikäferliedes“, oder wie es offiziell im deutschen Liedgut genannt wird, angestimmt, nur waren seine Zeilen verändert worden: „Maikäfer flieg, in Vietnam da ist Krieg .../ ... Ein sanftes Ruhekissen/ ist unsre CDU.“ Unruhe entstand, das Volk schien nicht einverstanden zu sein. Meine Spannung wuchs, ich öffnete die Lederhülle um den Fotoapparat und machte das erste Foto, vom Dr. Kiesinger, der, durch die Menge vor mir getrennt, hinter dem Rednerpult zu schreien und zu gestikulieren begann, nachdem diese Aufnahme im Kasten war. In der Menge entstand nun heftige Bewegung, die sich um die Gruppe der Protestierer, die ich jetzt als die Biberacher APO zum ersten Mal auftreten sah, konzentrierte.
Sie skandierte tapfer ihr Mißfallen an der CDU und an den geplanten Notstandsgesetzen, die einen Verlust von Bürgerrechten im Falle des äußeren und inneren „Notstands“ vorsahen. (Die tatsächlich schon bestehenden politischen und gesellschaftlichen Notstände fielen allerdings nicht darunter.) Ein Handgemenge bahnte sich an. Ich drängelte mich zwischen den Leuten, die aus Treue zur CDU und aus Neugier auf den Marktplatz herbeigeströmt waren, hindurch, um näher an das sich schnell entwickelnde Geschehen vorzudringen, den Fotoapparat klickbereit in der Rechten. Etwas Geschubse und Geschiebe, dann gelang es mir, zwei, drei Aufnahmen zu schießen, eben als die Rauferei ihren Höhepunkt erreichte, die roten Kreuze schwankten, niedergerissen, zerbrochen wurden. Aus Zufall bannte ich auf’s Bild, wie Eckhart Leupolz, der mir völlig fremd war (in späterer Zeit kannte ich ihn nur als „Ekke“, hatte aber keinen Umgang mit ihm), sich in der Masse etwas duckte, mit einem schnellen Blick die Lage sondierte. „Warum keine Notstandsgesetze?!“, rief der Kanzler in höchster Erregung über die wogenden Köpfe. „Wenn ich dieses Geschrei höre, wenn ich dieses Geschrei höre, dann weiß ich, wie notwendig die Notstandsgesetze sind!“ So abrupt wie die handgreifliche Auseinandersetzung begonnen hatte endete sie auch schon wieder, hatte sich der schlägernde Teil der Masse etwas beruhigt. Geschmeidig schlängelte ich mich aus dem Sympathisantenumfeld der CDU zurück auf den Bürgersteig. Die allgemeine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf den Redner, der noch immer aufgebracht seine Weisheiten von sich gab. Ich suchte mit den Blicken die Protestgruppe, von der ich aber nun nichts mehr sah und vernahm, ihre Transparenten und Kreuze waren in der Menge, aus der heraus „mal aufgeräumt“ worden war, untergegangen; oder wie war das? Ich kann mich jetzt nicht erinnern, nach dem Tumult, der für einige aus der APO-Gruppe durchaus schmerzhaft gewesen war (wie ich lange Zeit danach hörte), noch eine nennenswerte „Störung“, wie es dann im Polizeibericht vermutlich hieß, wahrgenommen zu haben. Ich habe aber deutlich vor Augen, wie ich diesen Ort noch während der vom CDU-Kanzler fortgesetzten Rede verließ, sein Gequatsche ging mir etwas auf die Nerven, mir so meine Gedanken machte, in denen für die APO Biberach eine kleine Sympathie aufkam, für den Mut, vor der Übermacht des Gegners nicht zurückgeschreckt zu sein, den Mund aufgemacht und die Stellung so gut es ging gehalten zu haben. Über den Gigelberg schlenderte ich nach Hause, machte von seiner Höhe aus noch zwei Fotos vom Stadtkern, der sich darunter zusammendrängte (als habe das Städtchen doch plötzlich etwas Angst vor diesen völlig ungewohnten Worten und Taten seiner Jugend bekommen), wo allerdings vom geplatzten Auftritt des Dr. K., der mitten in seiner oberschwäbischen, von den Zumutungen der Zeitläufte unangefochten geglaubten Parteilandschaft, in Anwesenheit von Presse und Fernsehen, in peinlicher Weise Kontra bekommen hatte, das in den folgenden Tagen landes-, gar bundesweit registriert wurde, sonst nichts zu sehen und zu hören war; die Idylle schien unberührt zu sein.
Die Fotos, die mir, eingekeilt zwischen wütenden Kiesinger-Fans, gelungen waren (und offensichtlich, wie die Jahre ergaben, die einzigen von diesem Handgemenge sind), schenkte ich viele Jahre später einem der beiden Protagonisten des Protests, dem Kunstmaler Martin Heilig, für sein Archiv. Vor einiger Zeit ließ ich, hier in Berlin, wieder Abzüge von den Negativen, die etwas sehr Positives, eigentlich, zeigen, machen. Einige Zeit nach diesem Apriltag im Jahr 1968 besuchte ich in der Aula des Wieland-Gymnasiums eine Veranstaltung der linken Szene, dort am Büchertisch erwarb ich das Kommunistische Manifest. Es war mein erster Blick in die marxistische Theorie.
- Wie war das Wetter heute? Grau und unauffällig; gar nicht so kalt.
29.1.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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