28
Jul

28.7.2002

Am 28. Juli 1930 wurde Klaus Leupolz geboren, und am 28. Juli 1902 Sir Karl R. Popper. Diese Kongruenz der Geburtsdaten ist mir erst heute, als ich den ersten Blick auf den Artikel in der „Neuen Zürchen Zeitung“, in dem auf Poppers Zentenarium hingewiesen und seine Sozialphilosophie gewürdigt wird, geworfen habe, aufgefallen, und nie machte Klaus Leupolz mich in unsern Gesprächen, in denen immer wieder auch Philosophisch-Theoretisches, Geschichtliches, aufkam, auf diese Gleichzeitigkeit zumindest dieses besonderen Tages im Jahr, wobei er freilich auf diese allmenschlich-tägliche Besonderheit nie höheren Wert legte, aufmerksam, wo er doch Popper als den einzigen Philosophen nur oder Sozialtheoretiker, unter all den anderen, schätzte und mit seinen Postulaten übereinstimmte – sofern Klaus Leupolz je mit irgendjemandem oder irgendetwas übereinstimmte. Mir wird erst heute, erst jetzt, die schiere Deckungsgleichheit der Lebensführung meines Freundes mit den Popper’schen Maximen deutlich; die Falsifizierung des Gegebenen durchzuführen; sich den Irrtümern des scheinbar Richtigen zu stellen, aus dieser Negation die Kraft für die Suche nach etwas Neuem, das sich besser bewähren könnte, gewinnen; die Vernunft in der Kritik des Bestehenden anwenden; geistige, und praktische, Unabhängigkeit gegenüber den Ansprüchen und der Aufgeblasenheit sogenannter Großer Männer, gerade dann, wenn zu erkennen ist, daß sie dies nicht sind, zu demonstrieren. Ich bin geradezu genötigt, hier ein Zitat aus dem NZZ-Artikel folgen zu lassen: „Kritik und Engagement gehören für Popper zusammen – wie in der Philosophie der Aufklärung. Auseinandersetzung und Polemik kennzeichnen Poppers Denkstil ebenso wie das Einstehen für jene Werte, die nach der Französischen Revolution die Philosophie der Aufklärung inspirierten. Philosophie ist für Popper nicht – und ist es auch, wo immer sie lebendig war, nie gewesen – ein konsequenzenloses Geschäft, sondern sie muss ihren Beitrag zu anstehenden Problemen leisten – und das sind vorrangig Probleme des politisch-praktischen Lebens.“ Nun darf ich annehmen, daß mein Freund Leupolz selbstverständlich wußte, daß sein Geburtstag identisch mit dem des Philosophen war und daß es ihn gefreut haben muß, daß ein Mann, dessen Ideen und Vorschläge er schätzte, am selben Tag, nur achtundzwanzig Jahre zuvor, geboren worden war; umso mehr, als er doch im Laufe seines Lebens erkennen können mußte, wie seine Art zu leben den Grundlinien des anglo-austriakischen Denkers allmählich entsprachen; es muß eine stille Genugtuung für ihn gewesen sein (von der er nie sprach), daß seinem Leben eine philosophisch formulierte Grundströmung eigen war, ungewollt, denn das Leben wird früh zunächst durch Charakter und Selbsterfahrung bestimmt, die vor jeder Beschäftigung mit Philosophischem sich im Menschen ausformen und fest bilden, und alle Denkerfahrungen anderer sind dann – sofern sie in den pädagogischen Prozeß nicht in ausgeprägter Weise eingreifen – Beiwerk, das stützen kann. Ein unabhängig von Moden und Zeitgeisteinfällen denkender Mann war dieser Freund, der vor hohem Posten und Geßlerhut nicht den Rücken bog, in seiner Kritik – und auch die Biberacher Verhältnisse boten zuweilen in ihren borniert-lachhaften Hervorbringungen reichlich Anlaß dazu – vor polemischem Ausbruch nicht zurückschreckte und so den Unmut der Einflußreichen und derer, die davon weit entfernt waren, auf sich zog – was ihm gleichgültig zu sein schien und ihn doch so völlig unberührt nicht ließ. Denn wenn er (ich halte mich nun in diesen Biberacher Zuständen auf und berücksichtige nicht seine Äußerungen zur größeren Politik im Staat) seine Meinung, seine Anregungen auch, vortrug, dann geschah es – aber um das zu erkennen mußte man schon die Bereitwilligkeit mitbringen, aus dem manchmal zornigen Poltern das Bemühen, für das kulturelle und überhaupt das Leben in Biberach etwas Konstruktives, wenn vielleicht auch Eigenwilliges, aber das wäre der Stadt ja nur doppelt gut bekommen, beizutragen, herauszuhören, und daran gebrach es vielen, die an Tischen und in Foren saßen – aus einer tiefen Verbundenheit mit dem Genius loci, der ihm jedoch allzu häufig abwesend zu sein schien, weshalb auch er es in den Fünfzigern, den Sechzigern des zurückgewichenen Jahrhunderts vorzog, dem Städtchen für Jahre mitunter den Rücken zu kehren. Dann reiste er nach Persien, Thailand, Malaysia, Bali, nach Australien und Neuseeland (wo er zwei Jahre lang auch seinem Beruf als Zimmermann und Ingenieur nachging und sich verliebte), und wieder mußte es ihm wie eine Bestätigung seiner Denk- und Lebensart sein, daß auch Sir Popper, wie er, Jahre auf diesen großen südpazifischen Inseln sich aufhielt. Vielleicht weil er wußte, daß mir Poppers kritischer Rationalismus aufgrund meiner marxistischen Vergangenheit und meines Festhaltens an dialektischen Vorgehensweisen, die Popper ablehnt, nicht allzu bedeutsam erschien – ich war in L.s Augen wohl nicht „offen“ genug – , erreichten unsere mäandernden Unterhaltungen und Erörterungen dieses Gebiet nicht so oft, aber wenn, dann ließ er an seiner Wertschätzung dieses Philosophen keinen Zweifel.
Als ich noch in Stuttgart an der Universität war, klaute ich eines Tages Poppers Schrift „Das Elend des Historizismus“, eine schlichte Ausgabe in braunem Einband, weil ich zu jener Zeit an dem Ideologie-Kapitel für das Science Fiction-Handbuch saß, das bei S. Fischer herausgegeben werden sollte, und ich Poppers Positivismus als ein Beispiel für die neueste bürgerliche Ideologie, die keine sein will, und doch für eine heruntergekommene Sozialdemokratie den theoretischen Fundus bildet, kritisierend einarbeiten wollte. Las, was beim „Positivismusstreit“, dazumal in Tübingen vom späteren Lord Dahrendorf angeregt, herausgekommen war. Beim Umzug von Biberach nach Berlin fielen mir diese Bücher wieder einmal in die Hände, und nach dem kommenden, der vielleicht noch in diesem Jahr stattfinden wird, werde ich sie auch wieder, nebst all den anderen, die ich, weil ich Theorie nicht auf den Regalen haben wollte, als ich hier einzog (Benjamin und Adorno und Block u.a. wenige ausgenommen, weil ich die der Literatur zuordne, ausgenommen), in den Kisten beließ, aufstellen. – Happy birthday, Klaus L., wo immer du bist!
- Hochsommerlich heiß.
28.7.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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