18
Jun

18.6.2002

Am späten Abend des 18. Juni 1997, einem Mittwoch, fuhr A.K. mich nach getaner Kinoarbeit vor den Hochhauswohnblock im Klauflügelweg, hielt aber auf der Amriswilstraße an, die in einem nicht sehr ausgeprägten Bogen durch das Wohngebiet Hühnerfeld verläuft und an den großen Blocks vorbei führt, während der Klauflügelweg nur ein unwichtiges Sträßchen auf der Vorderseite dieser Hochhäuser ist, wenn man ihre Eingangs- und nicht die „Panorama“-Seiten als die Vorderseiten bezeichnen soll, und sagte zu mir: „Ich hoffe, du schneidest mich in Zukunft nicht.“ Dies zu hören erstaunte mich etwas und auch wieder nicht. Erstaunte mich, weil A.K. – mein langjähriger Chef und ich schreibe das Wort ungern hin, weil es mir auch während der sechzehn Jahre meiner Angestelltenzugehörigkeit zu den Filmtheaterbetrieben K. nie besonders erfreulich erschien, einen „Chef“ zu haben, aus Eingebungen oder Überlegungen, die ich schon angedeutet habe, oder aus Überheblichkeit nur – offenbar der Ansicht war, in diesem Moment, der in uns beiden nicht völlig ohne einen Anflug von Sentimentalität, der sich aber nur sehr flüchtig bemerkbar machte, vorüberschweifte, ich hätte Gründe, ihn „zu schneiden“. „Warum sollte ich das tun?“, sagte ich, aber beide wußten wir, daß ich dafür vielleicht doch Gründe in mir finden könnte, wenn ich sie denn finden wollen würde. Aber in diesem Augenblick, in dem ein sechzehnjähriges Arbeitsverhältnis endete und eine, alles in allem berücksichtigt, Bekanntschaft von zwei Jahrzehnten sehr unverbindlich werden würde und auch eine noch längere Vertrautheit und fast schon Verbundenheit mit diesen Kinos, in die ich, seit 1962, erst als kindlich-jugendlicher Filmegucker, dann als Filmliebhaber, schließlich Filmkenner hinein- und hinausgegangen, von dieser Minute an genauso rasch in die Vergangenheit begeben würde, wie sich die Erinnerungen an die vielen, vielen Tage und Nächte, die Erlebnisse, die schönen und die schlechten Stunden, die ups and downs eines intensiven Arbeitslebens als Filmvorführer und – zeitweilig – „Chefadlatus“, die Auseinandersetzungen, die Anlässe zur Erbitterung, die er und ich uns gegenseitig geliefert hatten, die Beruhigungen aufgewühlter Zustände, zu da und dort lückenhaften Sequenzen vieler, langer Filme formen würden, von denen ich dachte, daß der eine und der andere nie mehr aus meinem neuronalen Filmlager ausgeliefert werde – in diesem Augenblick konnte ich mild gestimmt all das überblicken, in einem raschen gleitenden Flug über diese sechzehn Jahre mich aufschwingen, die, als sie unten auf der Biberacher Erde währten, mir lang, sehr lang geworden waren, und die jetzt, in der endgültigen Plötzlichkeit des Endes, hinter mir zurück schwangen wie fortgeschwemmt in einer flachen, breiten, ausgedehnten Welle, die sie aus der Endlichkeit meines Daseins, in dem diese Arbeitsjahre sehr wesentlich das ihre abgelagert hatten, in eine höhere Zeitbestimmung trug und in dieser mächtigen und doch kaum wahrzunehmenden Bewegung manches von den Ablagerungen und Versteinerungen der Jahre wieder mit sich nahm oder glatt wusch. Ich stieg aus dem Auto, A.K. fuhr zum Kino zurück, ich ging über den Weg, der seitlich auf den Wohnblock zu- und an ihm vorbei zu den Eingängen weist und dachte: „Es ist soweit. Ich bin wieder frei.“ Zwei Gedanken in einer Minute des sanften Glücks.
- Sehr heiß und sehr hochsommerlich.
18.6.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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