13
Jun

13.6.2002

Ich bequemte mich nun doch, mich um einen Studienplatz zu bemühen, an der Universität Stuttgart, und das war nicht schwierig. Im Lauf der Julitage dann kam von der ZVS die Zuteilung für die Fächerkombination Politologie, Soziologie, Pädagogik, eine Zusammenstellung aus allein „linken Gründen“. Mir war nicht unbekannt, daß wenigstens im Fach Soziologie eines Tages aus statistischen Gründen heftig Mathematik betrieben werden würde, für ein Semester oder zwei, und das konnte mir nicht behagen, doch irgendwie, so meine nicht sehr rationale Ansicht, würde ich mich da durchtricksen. So richtig begierig auf’s Studieren, ich fühlte das, war ich ohnehin nicht und nie gewesen, weshalb ich ja auch ein Jahr später als es möglich gewesen wäre die entsprechenden Schritte unternahm. Ich hielt mein Leben in Biberach, trotz aller erotischen Frustrationen und Unzulänglichkeiten im Umgang damit, die ich an mir allmählich feststellte, für abwechslungsreich und ausgefüllt und hatte insgeheim sowieso nur das eine vor: meine Tage als Schriftsteller zu verbringen. Aber nun war zunächst ein Status erforderlich, mit dem ich mich der Gesellschaft gegenüber definieren konnte, und vor allem um meine Mutter zu beruhigen, die sich Sorgen um mich zu machen begann, aber welche Mutter hegt nicht besorgte Gedanken hinter der Stirn, wenn der Filius so gar keine Anstalten erkennen läßt, mit denen ein sogenanntes Fortkommen auf die Wege geleitet würde. Als ich den Zettel von der ZVS ihr zeigte, stand nun also für uns beide fest: ab Mitte Oktober 1974 würde ich Student und außer Haus sein, wenn auch noch nicht auf Dauer. Ich produzierte über all das gar keine Projektionen und ließ die Situation auf mich zukommen; ich lebte in Biberach hübsch bequem und genoß das auch und bekämpfte die zuweilen getrübte Stimmung, woran mein „Triebschicksal“ seinen gehörigen Anteil hatte, mit Alkohol. Zweiundzwanzig Jahre alt schon zu sein und nie zum Vögeln Gelegenheit und günstige Umstände zu haben konnte einem gut aussehenden Schwulen in einer südwestdeutschen Provinzstadt ganz schön auf den Sack gehen. Ich war schlichtweg nie frech genug, auch später nie, es lag mir gar nicht, und ich fraß meinen Ärger und meinen Selbsthaß in mich hinein, Typen anzumachen. Schwule, junge oder alte, bemerkte ich im Biberach jener Zeit nie. Manches Mal, wenn ich über den Gigelberg gegangen war, zwei und drei Jahre früher, hatte ich erstaunt überlegt: „Ich seh hier nie schwule Typen, wo sind die alle?“ Das Wort schwul war nach 1970 noch keineswegs so selbstverständlich wie heute in Gebrauch, bei den Schwulen, die sich lieber „Homoerotiker“ oder „Homophile“ nannten, noch weniger als bei den „Normalen“, für die es das alte Diskriminierungswort noch in aller stammtischhaften Selbstverständlichkeit war. Wo waren sie, die jungen Biberacher Homos, und wenigstens ein paar davon mußte es doch geben? Nie hörte ich die leiseste Andeutung von einem heimlich-offiziösen Treffpunkt, und ich hockte wahrlich oft genug zwischen Heteros im „Strauß“ oder im „Goldenen Rebstock“, auch „Stecken“ genannt, aber nirgendwo fiel, nicht einmal abfällig, ein Wörtchen über „Schwule“. Es gab keine Szene, von der ich irgendetwas hätte mitbekommen oder beobachten können. Wahrscheinlich fuhren die Jungs auch damals in die größeren Städte, nach Ulm, München, Konstanz am Bodensee; erst 1974 sickerte bis zu mir durch, daß es in Ulm das „Aquarium“ gäbe, das sei auch ein Schwulenlokal. Ich fuhr nie hin, frustete in Biberach vor mich hin. Ich hatte, es muß 1973 gewesen sein, zwar jemanden entdeckt, aber an dieser Entdeckung litt ich, statt daß sie mich erfreute.
- Vormittags und über Mittag finster, starker Windregen. Am frühen Abend ließen die zerfledderten Wolkenschichten Sonnenlicht durch, das sich behaupten konnte.
13.6.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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