14.10.2002
Am Montag nach dem sonntäglichen Feiertag der Heiligen Drei Könige irrte ich in meinem weißen Frühjahr-Sommer-Herbst-Mantel über Straßen und Treppen im Stuttgarter Westen unten im Talkessel, auf der Suche nach meiner neuen Behelfsunterkunft in der Kellerwohnung von Joachim U. und seiner Freundin Bärbel P., Freunde aus Biberach, die sich über die Weihnachtstage bereiterklärt hatten, mich für meine wohnungslose Zeit unterschlupfen zu lassen. Dicke Schneeflocken stöberten wild durch die Stuttgarter Häuserlandschaft. Endlich fand ich die Adresse, klingelte, ich fand Einlaß und wärmte mich erst einmal auf. Joachim U., Elians Bruder, studierte an der Kunstakademie und war Schlagzeuger in der fast legendären Jazzrockband „Tatzelwurm“ in Biberach gewesen, die nun aber nicht mehr zusammen war. Er war ein untersetzter Typ mit spirituellen Neigungen und lächelte nur über politische Ambitionen, was uns nicht hinderte, ein einvernehmliches freundschaftliches Verhältnis zu haben. Bärbel war hübsch, lebenslustig und ich sah sie an kaum einem Tag betrübt – ihr fröhliches Naturell setzte sie gelegentlich ein, um mich, der ich mit gedämpftem Temperament die Studiumstage des ersten Semesters hinter mich brachte, aufzumuntern, mir auch einmal die hellere Gemütsverfassung als die er-strebenswerte Eigenschaft vorzuleben, was ihr dann auch meistens gelang. Ich heiterte mich ja mit Alkohol auf, was die beiden auf Dauer eher mißbilligten, doch ich führte mich manierlich auf, so entstand auch nie ein Anlaß, mich vor die Tür zu expedieren. Oft fuhr ich am Freitag Mittag zum Wochenende nach Biberach. Es war dort schlichtweg bequemer. Im Februar endete für die vorlesungsfreie Zeit dieses Stuttgarter Studentendasein und ich war erleichtert, für einige Wochen am Stück die gewohnten heimatlichen Wohnverhältnisse genießen zu können. Ich versuchte nach wie vor, mit dem Heruntertippen von Trivialromanen zu Geld zu kommen, aber nichts wollte mehr funktionieren. Wohl schickte ich ein Skript noch einmal ein, es kam nach Wochen, im Frühjahr, zurück. Es war vielleicht etwas zäh geworden? Auf irgendeine Weise mußte ich Geld für künftige Miete aufbringen, Joachim, „Bubel“, und Bärbel, hatten die Augen, was das betraf, zugedrückt, ich konnte ihnen jedoch eines Tages, und ich hoffe, es stimmt, was ich schreibe, etwas Geld zukommen lassen. Auf längere Frist mußte aber etwas geschehen. Zum Jobben hatte ich keine Lust, ich verfügte über keinen Führerschein, und volle Tabletts waren in meinen Händen keinesfalls sicher und ich versuchte erst gar nicht, das auszuprobieren. Ich war noch nicht der Ansicht, in Bälde eine große Zukunft als Schriftsteller erreichen zu können, war nichtsdestoweniger zuversichtlich, mir aus dieser wenig ruhmträchtigen Groschenromanschreiberei ein Zubrot – aber zu was? – verdienen zu können. Seltsamerweise hatte ich immer etwas, aber nur etwas, Geld, das hauptsächlich aus der Kasse meiner Mutter in meine Taschen kam; und aus welchen Quellen denn noch? Im Frühjahrssemester hauste ich noch immer in der gemeinschaftlich genutzten Kellerwohnung, studierte zunehmend unlustiger, trieb mich in Stuttgart herum. In der Mensa hatte ich nur zweimal einen matschartigen Tellerinhalt hinuntergewürgt, danach verschmähte ich den Studentenfraß und gab mein Geld in einer Kneipe in der Nähe der Universität, die eine Art Stammlokal wurde, weil sich dort auch die Genossen ( und -innen) des Marxistischen Studentenbunds Spartakus und der DKP-Hochschulgruppe einfanden, aus, in der ich häufig eine kleine Terrine mit Speckbohnen, die auf mancherlei Weise zubereitet wurden, vertilgte, und ein oder zwei halbe Liter Bier dazu hinunter spülte. Die DKP-Hochschulgruppe traf sich einmal in der Woche in einem Seminarraum in einem der beiden Hochhäuser. Das war eine Gruppe von etwa zehn oder zwölf Leutchen beiderlei Geschlechts, die Männer in der Überzahl. Die üblichen Aktivitäten – hochschulrelevant und auch nicht – zu den üblichen in Frage kommenden Tagen, die einen Bezug zur sozialistischen oder auch „fortschrittlich-humanistischen Bewegung“ aufwiesen, wurden geplant; ich lümmelte, längst von allem gelangweilt, in einem harten Stuhl und beteiligte mich kaum noch an den Diskussionen. Es erschien mir inzwischen so unrealistisch, was die Genossinnen und Genossen so von sich gaben, wie sie sich noch aufregen konnten, erstaunte mich insgeheim, ich gab der Ahnung, daß all das zu nichts führen würde, von Monat zu Monat mehr Raum in meinem so unausgefüllten Innenleben. Ich ertappte mich bei ironischen Gedanken. Manchmal gingen Bubel, Bärbel, Hans-J. F., der schon Lehrer in Stuttgart war, und Freunde dieser meiner Freunde und ich gemeinsam aus, testeten Kneipen, aber so viele auch wieder nicht. Ich war oft schlechter Laune. In Stuttgart fühlte ich mich nicht wohl, die schwäbische Saturiertheit drang überall hervor, zu teuren Veranstaltungen reichte mir das Geld nicht. Ich hatte keine Ahnung, was ich hier sollte. Das Studium war öde, ich war auf der falschen Uni gelandet, und nur deshalb, um nicht so weit von Biberach entfernt zu sein; denn ich trug auch manche Sorge um meine Mutter mit mir herum. An manchen Freitagabenden, als ich vom Bahnhof zur Lindelestraße hinaufging, hatte ich ein ungutes Gefühl, ich wußte nicht, was mich zuhause erwartete ... An einem Abend, 1967 oder 1968, war ich rasch zur Ärztin meiner Mutter, Dr. Frank-T., die auf dem Gigelberg in der Jahnstraße praktizierte, hinübergeeilt, um mich zu erkundigen, ob die vier Tabletten eines von der mehrfach schon erwähnten pharmazeutischen Firma am Ort produzierten Antidepressivums nicht drei zuviel gewesen wären. Sie solle viel Milch trinken, hatte die Ärztin gesagt. Seit meinem zwölften Lebensjahr befürchtete ich, daß meine unglückliche Mutter eines überraschenden Tages ihrem Leben ein Ende setzen würde. Es war nicht nur eine Befürchtung, die vielleicht aufgrund eigener Neurosen in mir aufflackerte, sondern schon eine Gewißheit. – Dann war das zweite Semester ebenfalls abgelegt und gelernt hatte ich nichts, was ich nicht schon gewußt hätte. Ich nahm das Studium nicht mehr ernst.
- Ein unaufgehellter Tag; Nieselregen, naßkalt.
14.10.2002
- Ein unaufgehellter Tag; Nieselregen, naßkalt.
14.10.2002
14.10.