17.9.2002
Ich lebte nie in einer fröhlichen und immer in einer skeptischen Stimmung und Weltbetrachtung. Die Atmosphäre meiner Kindheit war von Verlusten, (sicherlich nicht nur von Hab und Gut in der Heimat in Oberschlesien), Kriegserfahrungen, Tod, Trauer und schleichender Resignation hauptsächlich geprägt. Auf das „hauptsächlich“ lege ich Wert, da es auch freudige Tage gab, selbstverständlich. Doch die Hauptstimmung war die der latenten Schwermut. Ich mache meiner Mutter und meiner Großmutter keinen Vorwurf und meinem „Alten“ nicht. Freilich war es, so denke ich urteilen zu können, sein Verhalten, das einem Versagen doch ähnlich scheint, das die Lebenswelt meiner Mutter und somit meine in den fünfziger und sechziger Jahren des Jahrhunderts, in dem ich meine Jahre lebte, dann bestimmte. Mag sagt: „Es gehören immer zwei dazu, wenn eine Verbindung zerbricht.“ Das mag sein. Die nervöse und manchmal anspruchsvolle Haltung (und was wäre ein Leben wert, in dem man keine Ansprüche auf ein besseres äußern dürfte?), die meine Mutter in ihren jungen Jahren, was ich von Frau H., der meine Mutter viel erzählte, was ich nie zu Ohren bekam, angedeutet bekam, auch an den Tag legen konnte, wurde von meinem Erzeuger (ich kann es nur vermuten) im Lauf der wenigen Jahre, die sie miteinander verbracht hatten, als zu anstrengend betrachtet. Vielleicht auch nicht, und sein ausgeprägter Egoismus, der ihn zweifelsohne beherrschte, war nicht eben die Verhaltensweise, die in einem wahrscheinlich von Anfang an komplizierten und spannungsvollen Zusammensein die richtige hätte sein müssen. Letztlich ist es mir unmöglich, die wahren Hintergründe ins Glimmerlicht der Erinnerungsversuche zu ziehen. Meine Mutter hatte in ihrer jungen Zeit bestimmte Vorstellungen vom Leben entwickelt, die, je älter sie wurde, desto unerfüllbarer in ihrem wirklichen Leben dann erschienen; und auch waren. Wem ergeht es nicht so? Wenigen nur ist es beschieden, das Leben trotz aller Hindernisse so entfalten zu können, wie Jugendträume oder die kraftvolle Belebung in den ersten Jahren der beruflichen oder persönlichen Bestätigung es erhoffen lassen. Es mag sein, daß ich mich in dieser Einschätzung irre; ich habe wenig Erfahrung mit diesen Prozessen, denn ich kenne zu wenig Menschen gut genug , als daß ich dies oder das Gegenteil an ihren Werdegängen ablesen könnte. Meine Beurteilungen entspringen viel zu oft nur literarischen Darstellungen und Erkenntnissen; ich hatte immer eine Neigung dazu, das sogenannte wirkliche Leben für nicht sehr aussagekräftig zu halten. Meine Mutter jedenfalls versuchte dann in den sechziger Jahren, das Beste noch aus diesen von Seelenkummer und Zurückweisung und Beleidigung geformten Gemüts- und Gedankenzuständen zu holen, und oft fiel ihr das schwer. Ich lernte, rücksichtsvoll zu sein. Ich war ein braver Junge. Ohne viel darüber zu grübeln (meine Mutter grübelte sehr) nahm ich die Einsicht auf, daß Liebesbeziehungen nicht halten, was sie anfangs versprechen; die Illusion vom „Glück zu zweit“ setzte sich in mir gar nicht erst fest. Früh stellte ich auch fest, daß das andere Geschlecht mich nicht anzog, ohne daß ich deswegen ausgeprägte Zuneigungen zu irgendwelchen Jungen meines Alters, von älteren zu schweigen, empfunden hätte. In der Pubertät war ich von sexuellen Anfechtungen nicht belästigt; vielleicht ein unbewußtes Resultat der empörten Erregung nach dem doch gar nicht so bedeutsamen (?) Vorfall in der kleinen Schlucht an der Gartenstraße. Oder auch nicht. Ich war nicht triebhaft unruhig, ich las, ich ging ins Kino, ich fand Liebesszenen langweilig. Was sollte an Frauen interessant sein? Die „sexuelle Revolution“ der sechziger Jahre, von Uhse- und Kolle-Filmchen, die das bundesdeutsche Spießertum in die Kinosäle trieben, befördert, ging an mir vorüber und war höchstens für Ironisierungen gut, die ich dann und wann abließ. Eine Abwehrreaktion? Schwulen Sex auszuprobieren war gar nicht meine Absicht, mit fünfzehn, sechzehn Jahren. Ich lebte geschlechtslos, onanierte nur ein bißchen vor mich hin. Sex war nicht wichtig. Lesen war wichtig. Filme sehen auch. Überhaupt hatte ich zu meinem Körper, ohne den es einen Intellekt nun leider nicht gibt, damals ein eher nachlässiges Verhältnis, was sich schon daran zeigte, daß ich keinerlei Verlangen nach seiner sportlichen Ertüchtigung und Ausbildung kannte. Ich war nicht körperbewußt. Den Körper nimmt man wahr, wenn er lästig fällt und die Selbstverständlichkeit des Lebens stört. In späteren Jahren war ich hypochondrisch. Eine Neurose, die sich aus der unbewußten Körperfeindlichkeit erklärte; oder wie denken die Psychodoktoren darüber? War mir ja in den Siebzigern klar. Kurz und gut: die körperlichen Freuden blieben mir ziemlich verschlossen; sie rumorten aber seit meinem achtzehnten, neunzehnten Jahr hinter der Tür, und das war dann nicht so angenehm. Und überdies: zur Kritik war ich geboren, nicht für den Jubel.
- Vormittags grau bis zum Nachmittag, mit Tendenz zu regnen, aber nur wenige Tropfen fielen herab; ab frühen Abend in Kreuzberg trüb, in Mitte drangen Sonnenstrahlen durch die Wolkenansammlungen.
17.9.2002
- Vormittags grau bis zum Nachmittag, mit Tendenz zu regnen, aber nur wenige Tropfen fielen herab; ab frühen Abend in Kreuzberg trüb, in Mitte drangen Sonnenstrahlen durch die Wolkenansammlungen.
17.9.2002
17.09.