23
Jan

23.1.2002

Heute habe ich erfahren, und nicht zum ersten Mal, wie sehr den eigenen Erinnerungen das Bestreben innewohnt, sich als unabänderlich und richtig darzustellen, wenn es ihrer Grundtendenz es erst einmal gelungen ist, vom Bewußtsein (das zu einem nicht unerheblichen Teil von anderen Erinnerungen gebildet wird) akzeptiert zu werden. Hat die Grundtendenz sich eingerichtet, verwandelt sie sich allmählich, indem sie noch zwei oder drei feststehende Überlegungen aus einem anderen gewesenen Zusammenhang an sich nimmt, um ihre Bedeutung anzufetten, in die Erinnerung selbst und steigt in den Rang der vollgültigen Erinnerungen auf. Diese robuster gewordene Figur strahlt nun auch die verlangte Glaubwürdigkeit aus, die eine richtige Erinnerung zu haben hat, und verhüllt mit dieser schönen Fassade den kleinen Hohlraum aus Ungewißheit, den sie noch aus ihrer Existenz als Grundtendenz in sich hat. So eine von der Wahrheit nicht ganz ausgefüllte Erinnerung – die sich ihres Defizits an vollständig wahrem Wissen aber nicht, oder, der schlimmere Fall, nicht mehr bewußt ist – wird gelegentlich, wenn zwei unterschiedliche Bewußtseine sich mit demselben Ereignis abgeben, vom zweiten, anderen Bewußtsein und dessen sozusagen hieb- und stichfester, also keinesfalls wie mit der dünnen Luft des Nicht-ganz-genau-Bescheidwissens gefüllter Erinnerung so attackiert, daß sie in sich zusammenfällt und dadurch ihre wirkliche Natur, eben nur eine unvollständige, nicht richtige Erinnerung zu sein, offenbaren muß.
Heute Nachmittag hat mich der verantwortliche Redakteur der Lokalausgabe der „Schwäbischen Zeitung“ in Biberach, Herr D., angerufen und mir mit Nachsicht in der Stimme gesagt, was ich da geschrieben hätte, „die erste Spätvorstellung“, sei so bestimmt nicht richtig, denn Kinospätvorstellungen habe es in Biberach schon in den sechziger Jahren im „Ringtheater“ gegeben, und schon ist diese meine Erinnerung, die sich mir gegenüber so viele Jahre als vollständige und wahre ausgab, eingefallen. Und die Reste dieser zerstörten Als-ob-Erinnerung verknüpften sich mit einer anderen richtigen Erinnerung, die ihrerseits erst durch den Impuls der fremden Erinnerung aus ihrem unauffälligen Schlummer gerissen und wiedererweckt worden ist und der fremden Erinnerung nun dafür dankbar ist, nicht länger von der falschen Erinnerung verdrängt und überschattet zu werden. Kurz und gut, sofort habe ich gewußt, wie es tatsächlich gewesen war, ich habe die Gelegenheit gehabt, mich von einer lieb und angenehm gewordenen Vorstellung eines Ereignisses zu verabschieden und der Wahrheit ihren Platz einzuräumen, was zwar ein hübsches, der Eitelkeit schmeichelndes Konstrukt niederreißt, letztlich aber der größere Gewinn ist; dazu hat es des Telefonats mit dem Kinoleiter des „Ringtheaters“, den ich angerufen habe, um diese Wahrheit zusätzlich zu verifizieren, gar nicht gebraucht, aber das Telefongespräch hat noch einen Mehrwert an Informationen zur gegenwärtigen Situation der beiden konkurrierenden Kinobetriebe erbracht, und sich deshalb als nicht falsch erwiesen.
- Im Wetterbericht wurde dieser Tag bestimmt als „heiter“ beschrieben. Sonne, am Vorabend im graublauen Westhimmel grauere aneinander gereihte Wülste.
23.1.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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