prolog

11
Dez

Prolog: Texte aus dem Jahr 2000 (3)

Meine Mutter war als Erna Hoffmann in Hirschrode, einem Dorf in Niederschlesien, das zum Kreis Großwartenberg gehörte, geboren und aufgewachsen. Im Jahre 1939 hat es etwas über dreihundert Einwohner. In jener Zeit wurde auch der Name des Dorfes in „Klenowe“ geändert. Das Geburtsjahr meiner Mutter war das Jahr 1922, der Geburtstag der 21. Februar. Mir sagte sie, irgendwann in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, der Standesbeamte habe das Geburtsdatum falsch eingetragen, in Wahrheit sei sie am 22. Februar geboren worden; sie bedauerte manchmal, ihren ersten Tag auf dem Planeten nicht mit "22.2.22" angeben zu können; die Zahlenkombination hätte ihr gut gefallen und anderen eine gewisse Exklusivität signalisiert; auch sie war von kleinen Eitelkeiten nicht frei.

Mein Vater Friedrich Diedrich, zweiter Vorname Adolf, geboren am 31. Oktober 1909, stammte aus Göttingen. Sein Beruf als Werkzeugmacher, dann Werkmeister, führte ihn zunächst nach Potsdam, nach dem Zweiten Weltkrieg nach Biberach. Kennen gelernt hatten sie sich – aber das sollte ich erstaunt erst im Sommer 2000, als ich schon eineinhalb Jahre in Berlin lebte und zum ersten Mal einige Papiere, die ich von meiner Mutter noch hatte, durchsah, feststellen – in Berlin; 1945, nach dem Krieg. Mein Erzeuger – das Wort "Vater" kam mir für Jahrzehnte nur zögerlich über die Lippen – hatte noch in erster Ehe gelebt; weshalb ich einen um zehn Jahre älteren Halbbruder, Hartmut, habe.

Meine Mutter und mein Vater waren, wie ich auch erst in Berlin, in diesem Sommer des Jahres 2000, von der Schwäbin, Frau H., erfahren habe, und meine Tante R. hat es mir einige Tage danach bestätigt, Cousine und Cousin..."Auch in den Königshäusern", so habe meine Mutter einmal, wie Frau H., noch immer amüsiert, mir gesagt hat, gemeint, "heiratet man so eng."

Mein Vater hatte zwei Brüder, die ich zuletzt bei seinem Begräbnis, das ich kühl gestimmt hinter mich brachte, Ende August 1977, sah. Überhaupt ist mir meine Verwandtschaft väterlicherseits bis zur Stunde rätselhaft geblieben. Ich erinnere mich aber deutlich an meinen Besuch in Göttingen als Vierzehnjähriger. In den väterlichen Genealogien kannte ich mich nie aus, nie bestand eine engere Beziehung zu ihnen; seit 23 Jahren ist sie ganz abgebrochen.

Meine Mutter und ihre beiden Schwestern R. und G. waren auf einem 40-Morgen-Hof im Dorf Hirschrode aufgewachsen, zu dem ein Ladengeschäft samt Gastwirtschaft gehört hatte. Mir war es immer kaum vorstellbar, daß meine Mutter in ihrer Kindheit und Jugend noch auf einem Bauernhof gelebt hatte, denn ich bin im Lauf des Lebens kein Landfreund geworden. Eine Wiese dieses Hofs habe, wie eine meiner Tanten, die beide in Radeberg in Sachsen leben, mir gesagt hat – so östliches Blut kreist also in meinen Adern, was mir erst jetzt richtig bewußt wird! – , an die polnische Grenze gereicht, ein Bach war die Grenze des Deutschen Reiches zu Polen hin; der Hof habe ja im damaligen "Warthegau" gelegen; der hatte in Hitlers Reich seine Sonderbedeutung: Aus dem deutschen Schlesien und Polen war dieser „Gau“ nach dem Überfall auf Polen, dem Kriegsbeginn, zusammengesetzt worden. Schon sehr bald fanden hier, im polnischen Teil, die ersten Nazi-Greuel statt. Dieser Hof wurde durch den deutschen Krieg verloren. Meine Großmutter, die in zweiter Ehe den Namen Gasa getragen hatte – dieser zweite Mann kam im Krieg um, der zweite Mann, den sie auf gewaltsame Weise verlor, kein Wunder, daß sie nervenkrank war –, meine Mutter und ihre Geschwister und der Knecht Josef flohen in einem von Pferden gezogenen, mit einer Plane überdachten Wagen vor den nachrückenden Soldaten der Roten Armee Richtung Westen. In Fischbach östlich von Dresden endete die Flucht, als einer der sowjetischen Soldaten ihnen das letzte Pferd ausspannte...

Bis 1964 wohnte meine Tante R. mit ihrer Familie auf einem ehemaligen Förstergut in dem Dorf Fischbach, vielleicht zwanzig Kilometer, es können auch mehr sein, von Dresden entfernt. Als Knabe brachte ich dort ein paar Sommerferien zu; wenigstens gute Teile davon. 1970 war ich für 23 Jahre zum letzten Besuch in Sachsen, in Radeberg, wo die Verwandtschaft inzwischen lebte. Der Zwinger zu Dresden, Dampferfahrten auf der Elbe ... Wanderungen durch das Elbsandsteingebirge der Sächsischen Schweiz, zur Festung Königstein... kleine Fahrten nach Stolpen, nach Meißen, zu anderen Orten…Auf dem Rücksitz des Motorrads von Onkel H., Tante R.s Mann, sauste ich in Bautzen an jenem schwarzgrauen Gemäuer vorbei, am Gefängnis, am berüchtigten Stasi-Knast, wie „Onkel“ H. mir sagte. Vom Sozialismus war meine Verwandtschaft enttäuscht. Zehn Jahre später, als wir in Biberach bei Falk B. Wolf Biermanns Platten hörten, baute sich diese Trutzburg von Gebäude vor mir auf, als der dissidentische Sänger tönte:

„Und schön’re Löcher gibt es auch, als das Loch von Bautzen!“

27.8./12.9.2000

Prolog: Texte aus dem Jahr 2000 (2)

(Am 8. Januar 1953 lag ein Kind im Schnee und schrie. Ein Jahr, fünf Monate und einen Tag alt war das Kind. Dieses Kind war ich. An diesem Tag fiel der Schnee heftig über die Stadt Biberach, die in Oberschwaben an und um das Flüßchen Riß, ein breiterer Bach eigentlich nur, lag und liegt; die Flocken sanken um das Haus am unteren Ende der Lindelestraße, die zum höchsten Hügel im Norden der städtischen Topographie führt, in den winterlichen Garten, der das Haus umgab, und auf mich, das Kind, das an der Nordseite jenes Hauses schrie. Eine Frau, knapp über das dreißigste Jahr inzwischen gekommen, dünn, hackte Brennholz zu Holzscheiten klein. Am Tag zuvor war dieses Brennholz in groben Stücken vom Bürgerheim geliefert worden; nun wurde es, in Mühe und Erschöpfung, von meiner Mutter auf einem kniehohen alten Holzstumpen zerkleinert. In einem Haus auf der anderen Seite der Straße, gegenüber, stand in jenen Minuten eine andere, um einige Jahre jüngere Frau, eine Schwäbin, am Fenster, sah die holzhackende Frau im anderen Garten, hörte das Kind schreien, auf das die Flocken sich legten, dachte: Der Frau muß doch geholfen werden, sie müht sich ja ab mit ihrer letzten Kraft, und das Kind liegt im Schnee. Sie ging hinüber, sprach meine Mutter an: "Grüß Gott, ich wohn' da drüben und hab Ihnen zugesehen, wenn Sie wollen, können Sie zu mir rüberkommen." Sie nahm das Kind auf, während sie das sagte. So begann die Freundschaft zwischen der Niederschlesierin und der Oberschwäbin.

26.8.2000

Prolog: Texte aus dem Jahr 2000 (1)

Auch ich hatte ab dem zehnten Lebensjahr meine Karl May-Phase und es dauerte seine Zeit, bis ich alles durch hatte. Nicht alle May-Romane besitze ich, las jedoch alle Bände des Sachsen, nicht nur die Winnetou- und Old Shatterhand-, die Kara Ben Nemsi- und Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abbul Abbas Ibn Hadschi David Al Gossarah -Abenteuer, sondern auch die Kolportage-Geschichten, die ihrerseits kleine Zyklen bilden, teilweise in imaginären deutschen Landen und Ländern beginnen und ihre teutschen Helden irgendwo in Mexiko, China und anderswo entlang reiten, -segeln, -kämpfen lassen, bis die Schurken ins Gras beißen und die Guten obsiegen. Die späten mystizistischen, in denen Old Shatterhand und Kara Ben Nem-si nebst Mitstreitern und Ehefrauen – in beiden Handlungswelten wird ja zuweilen auf die jeweils andere verwiesen und es ist bekannt, daß der zentrale Held eigentlich Schriftsteller ist, was an der Schmetterhand verwundert – in die „dark and bloody grounds“ und in den Vorderen Orient reisen, „Im Reich des Silberlöwen“ sich aufhalten, erstaunten einen dann Vierzehnjährigen etwas, und die christlich-verquasten Botschaften, die sie verkünden wollen, und die Errichtung eines kitschigen Denkmals für Winnetou – „Charly, Winnetou ist ein Christ ...“ flüstert er noch zum ewigen Abschied in „Winetou III“– waren wegen der plötzlichen Fremdheit, die sie in das gewohnte Erzähl- und Rezeptionsmuster einfließen ließen, auch eine nicht uninteressante Lektüre. Arno Schmidts „Sitara und der Weg dorthin“, in dem er Mays verkappte Schwulitäten genüßlich ans Licht zieht, wie ich vor dreißig oder mehr Jahren erfuhr, las ich nie; daß Winnetou eine schwule Figur war, ist, das hatte man später von ferne geahnt, im Alter von elf und zwölf Jahren aber nicht; so mancher heutige Dreizehnjährige würde da wohl hellsichtiger sein, wenn er noch Karl May läse.

An Weihnachten 1962 hatte ich mit meiner Mutter einen kleinen Kampf auszufechten, denn im „Filmtheater“ wurde der erste Karl May-Film, „Der Schatz im Silbersee“, gezeigt, und den wollte, nein, mußte ich natürlich un-bedingt sehen, aber ein Jahr zuvor, am zweiten Weihnachtstag, war meine Großmutter gestorben, und meine Mutter hielt es für pietätlos und unmöglich, daß ich an diesem Tag ins Kino gehen wollte. Hatte ich mich durchgesetzt oder sah ich den Film doch an einem anderen Tag der Weihnachtsferien? Es war ein Erlebnis, jene Helden, die ich mir bisher in der Phantasie vorgestellt hatte, nun verkörpert vor mir zu sehen; gleichzeitig verglich ich die Figuren, auch die der nachfolgenden in diesen Filmen von Harald Reinl, produziert von Horst Wendtland, doch mit denen, die sich in meiner Vorstellungswelt versammelt hatten, und ich gab dieser den Vorzug. Heute tun es Kinder, die sich „Harry Potter“ ansehen, nicht anders. Diese Karl May-Taschenbücher kaufte ich mir, zum Geburtstag oder zu Weihnachten, das eine oder andere auch einmal zwischendurch, oft von Geld, das mein Erzeuger, für den in diesem Zusammenhang das Wort „Vater“ vielleicht eine gewisse Berechtigung bekommt, mir schenkte; oder wir trafen uns vor der Buchhandlung „Weichhardt“ in der Bürgertumstraße, damals noch auf der linken Seite, wenn man vom Marktplatz her kommt, gingen hinein und ich durfte mir drei Taschenbücher aussuchen, die ich ziemlich schnell ausgewählt hatte, denn ich wußte ja, wo ich weiter lesen wollte. Es kam vor, daß mein Vater mich dann in seinem Fiat vor’s Haus brachte; anschließend fuhr er zu seinem am Hagenbucher Weg.

Eine andere Möglichkeit, die Lektürekenntnisse zu komplettieren, bestand darin, daß ich mir in der Katholischen Leihbücherei im Keller des Kolpinghauses Bände für eine Woche oder zwei auslieh. Ich war evangelisch, aber was störte es mich, bei den Katholischen das zu holen, was ich lesen mußte? Wenn meine Mutter in den Sonntagsgottesdienst gegangen war, setzte ich mich auf’s Fahrrad und sauste über den Gigelberg hinunter in die Kolpingstraße, lieh die Bücher aus, radelte geschwind zurück und war längst wieder zuhause, als die Mutter wieder kam. Ich glaube, sie erfuhr nie etwas davon, oder doch? Dann hatte ich die dort verfügbaren Bände gelesen, das Fahrrad blieb Sonntagvormittag im Abstellraum.

- Regen, sehr fein, Nieselregen.

21.1.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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