22
Dez

22.12.2002

Wie in anderen nicht großen und von den Zerstörungen durch Krieg und die Zeitläufte im Wesentlichen ihres Daseins verschont gebliebenen Städten stellte der Winter auch in Biberach a.d. Riß das Idyllische stärker aus, besonders in den Jahren, in denen die dunkleren Monate mit Kristallflockenfall auf sanft-weiche Art aufgehellt wurden. Durch den von der Mitte der Fahrbahnen an deren Ränder geschobenen und geschaufelten Schnee, der dort wie in allen Städten kleine Wälle bildete – die in einer kleinen ehemaligen Reichsstadt die vage Erinnerung an die noch viel kleinere Stadt und die ihre Bürger und Patrizier und Kleriker vor den Unbilden der äußeren Welt abzirkelnde Stadtmauer hervorrufen können – wirkten die Straßen, Sträßlein und Gassen zumal des Stadtkerns natürlich, auf nicht natürliche, geplante Weise entstanden, enger, altmodischer, älter und altertümlicher als an Nichtwintertagen, und ich scheue nicht davor zurück zuzugeben, daß das winterlich-schneebedeckte Biberach mir in manchem Jahr viel besser als das sommerliche gefiel. Das Gemütlich-Behagliche hat seine Ecke in den Verzweigungen meines inneren Systems aus den in den Jahrzehnten angesammelten Gefühlen, Gedanken, Empfindungen, Wahrnehmungen, Deduktionen, Reflexionen und was sonst noch alles zum Bewußtsein dazu gehört; wächst man in so einer Stadt, die zudem von einer ansprechenden und anmutigen Landschaft um sie herum geprägt worden war, die das Stadtidyll gleichsam als Schutzkordon umgibt, auf, kann das wohl auch erklärlich sein. Es gefiel mir, durch den frischen Schnee der weiten Flächen des Gigelbergs zu gehen, die von hohen schneebeladenen Bäumen begrenzten, die, wie die Flächen, weiß im Sonnenlicht funkelten oder in der Abenddämmerung jenen Stich ins Bläuliche, die Aura des versinkenden Winternachmittags, bekamen, der eine besonders zaubervoll-fremd anmutende Illumination dieser Jahreszeit ist, in Gedankenräumen mich ergehend, die von der vorhin erst unterbrochenen Lektüre geöffnet worden waren; und hatte ich die Brücke über den „Hirschgraben“, in dem sich noch in den siebziger Jahren wirkliche Hirsche und Rehe aufhielten, dessen Bäume und Sträucher, eng zusammengewachsen, auf den steil abfallenden Hängen – auf der dem Stadtinneren zugewandten Seite ragt der übrig gebliebene grob-steinerne Rest der Stadtmauer, flankiert von den beiden Türmen, auf – in ihrem Kristallschmuck des Schnees diesen langen Graben weiß-prächtig ausstaffierten, hinter mir gelassen, hatte ich die „Schillerhöhe“ erreicht und sah ich an solchen frühen Abenden (da und dort leuchteten unten Lampen und Fenster) über die schneeigen Dächer (rote „Biberschwänze“, Dachplatten, lugten zwischen dem da und dort heruntergerutschten Schnee hervor) des unter mir liegenden dichten Häusergemenges, aus dem so wohlvertraute Giebel und Firste und Türmchen meinen Blick erwiderten, etwas, wie es schien, zusammengeduckt wegen der Kälte – dann fand ich es in Minuten der Übereinstimmung und Ruhe doch angenehm, an diesem Ort zu leben, denn mein – geistiges – Leben führte mich ja auch zu anderen Plätzen, zu anderen Zeiten, in einem weiteren Kosmos, in dem die kleine Stadt eingefügt, aber nicht meine einzige Welt war. Unten in der Stadt war der glänzende Schnee des Gigelbergs (oder des Lindeles) zu braungrieseligem Belag oder schon Matsch verarbeitet worden, von den hastigen Bewegungen einer Kleinstadtrushhour, doch dämpfte in einem richtigen Winter selbst diese un-schöne Konsistenz des Geflockten die urbanen Geräusche; ich sah dann zu, in den „Strauß“ oder „Rebstock“ zu gelangen, oder in eine Bäckerei; oder ins Kino.
- Kalt, und grau der Himmel über Berlin.
22.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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