11
Dez

Prolog: Texte aus dem Jahr 2000 (9)

Wegen Erlebnissen, die ich weder damals kannte noch heute kenne, auch nie mehr erfahren werde, hatte die Großmutter in manchen Nächten einen schlechten Schlaf. Dann, von Albträumen gequält, schrie sie oft auf oder stöhnte laut. Mein Bett stand an der Ostwand des Schlafzimmers, in der ein kleines Fenster über mir Licht hereinließ, und Dunkelheit, wenn auch ein dünner Vorhang vor ihm hing, nur durch den kleinen schmalen Gang, der eben nur die Länge der Betten hatte, getrennt, daneben, und ich schrak in solchen Nächten dann auf und hörte, herzklopfend, wie meine Mutter, die im anderen Bett des Doppelbettes (das freilich für andere Verhältnisse gedacht gewesen war) lag, meine Großmutter, ihre Mutter, zu beruhigen versuchte; sie am Arm oder an der Schulter rüttelte, auf daß die Großmutter aus ihrem schlechten Traum erwache und danach ruhig weiterschlafen könne. Übrigens setzte sich, in den Jahren, als meine Großmutter schon tot war, dieses nächtliche Albtraumverhalten auch bei meiner Mutter fort, und es war dann an mir, denn noch immer schlief ich in diesem Schlafzimmer, nur daß nun das Bett zwischen dem meiner Mutter und dem meinen leer war, meine Mutter mit lauten Rufen aufzuwecken und in die Wirklichkeit zurückzubringen. Aber mancher Traum ist so stark und realistisch, daß der Träumende gut annehmen kann, der Traum sei das wirkliche Geschehen, denn auch im Traum ist man sich seines Körpers und seiner Gedanken durchaus vollkommen bewußt, ja, sie gehorchen dem Willen, über den man als Träumender, der sich nicht als solcher wahrnimmt, verfügt, oft auf seltsame Weise viel besser und effektiver als in der "Wirklichkeit".

Meine Großmutter starb am 25. Dezember 1961 an einer verschleppten Lungenentzündung. Ich war zehn Jahre alt. Es war ein trüber Heiliger Abend gewesen, in einer Atmosphäre von Hoffen und Bangen. Am späteren Vormittag des 25. Dezembers wurde der Krankheitsverlauf dramatisch; die Dres. D..., die in der Waldseer Straße ihre Praxis hatten, eilten in die Wohnung; eine verhaltene Hektik entstand, die Doktoren verschwanden im Schlafzimmer, die Tür zum großen Zimmer – das inzwischen wir bewohnten, denn mein Erzeuger hatte sich Ende der fünfziger Jahre in einem anderen Stadtteil ein Haus gebaut, in dem er mit seiner „Tusnelda“, wie meine Mutter sie nannte, lebte – schloß sich hinter ihnen.

K., der achtzehn- oder neunzehnjährige Sohn einer Bekannten meiner Mutter, Frau P., die unweit in einer anderen Straße wohnte, war erschienen, um mich in deren Haus mitzunehmen, um mich von der ernsten Situation abzulenken. Wir spielten Brettspiele, sofern das Erinnerungsvermögen mich jetzt nicht trügt, meine Gedanken schweiften freilich hinüber in "unser" Haus, in dem meine Oma mit dem Tod rang, und es mag sein, daß ich hin und wieder etwas abwesend wirkte. Am späteren Nachmittag ging ich nach Hause. Es war wohl angerufen worden; die R.s, die seit einigen Jahren mit im Haus wohnten, hatten ein Telefon, wir nicht..

Beim Eintreten in die Wohnung wußte ich sofort, daß das Schreckliche geschehen war. Aber ich war wie abwesend. Meine Mutter weinte. Sie und eine andere Person (Frau H.?) führten mich in das Schlafzimmer, in dem die tote Großmutter lag. Die Ärzte waren gegangen. Ich war sehr traurig.

Die Tote wurde für eine knappe Woche im vormaligen Wohnzimmer aufgebahrt. Der Pfarrer kam, Gebete wurden gesprochen. Meine Mutter weinte oft, dann wurde sie von der gebremsten Geschäftigkeit der Trauerwoche beansprucht. Buchsbäumchen verströmten am offenen Sarg ihren Geruch der Sterblichkeit, Blumen und Gebinde häuften sich auf den Stühlen. Kondolierende kamen, gingen, Türen öffneten, schlossen sich, aus ernsten Gesichtern wurden halblaute Worte gemurmelt. Meine Mutter trug schwarz. Abends wurde die Tür dann geschlossen. Sie hatte eine geriffelte Milchglasscheibe in ihrem oberen Teil, und so sah ich jedes Mal, wenn ich auf dem Weg durch den Flur zur Küche ging (wenn mein scheuer Blick sich zu jener Tür wandte), das todesbleiche, undeutlich umrissene Gesicht der Großmutter hinter dieser Scheibe.

Noch Jahre danach zeichnete mir die Erinnerung diesen spukhaften Fleck in diese Scheibe, wenn ich an der Tür vorüberging oder sie öffnete. Das Zimmer, in dem es noch nach der Bestattung nach Tod gerochen hatte, wurde dann für Jahre nur als Abstellraum und Rumpelkammer benutzt; ich hatte mich geweigert, diesen Raum zu meinem Kinder- und Jugendzimmer zu machen. Erst in einem Alter, wo andere junge Männer schon lange ihre eigene "Bude" hatten, zog ich schließlich, nach Renovierungsarbeiten, die ich zum Teil selber erledigte, ein. In so manchen Nächten, als ich im Bett, das nun längs der Nordwand des Hauses aufgestellt war, lag, sah ich neben mir, ein sekundenlanger Schemen, der das Gedächtnis verließ, diesen Sarg stehen.

16.10.200
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6343 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren