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Dez

Prolog: Texte aus dem Jahr 2000 (6)

Die Dinge haben nicht aufgehört, uns die Vergangenheit zu erzählen. Ein Blick auf sie genügt, einen schmalen Spalt in der Zeitwand öffnen – denn häufig ist es nur ein Spalt, keine große Öffnung, die uns auch vielleicht schon zuviel zeigen würde ... – und in einen Lebenszustand (unabhängig von der Stelle in dieser Wand) sehen zu können, in dem wir uns einmal, mit anderen Gedanken, mit Glück oder Unglück, keineswegs so selbstverständlich bewegt hatten, wie wir das bisher gedacht oder wenigstens doch, von einem als lebensnützlich sich darstellenden Sinn geleitet, erhofft hatten. Natürlich könnte man einwenden, diese Gegenstände, die uns mit unserem früheren Selbst verbinden würden, seien einfach nur stumme Sachen und mit keinerlei eigener Ausstrahlung ausgestattet, die ein Öffnen der Zeitwand erlaubte, und nur unsere längst feststehende Absicht, uns erinnern zu wollen, verleihe ihnen nun im Ansehen nur eine gewisse Fähigkeit, den Einblick ins Frühere deutlicher und genauer ausgestalten zu können. Das gelte, dürfte zudem hinzugefügt werden, übrigens auch für alle Gegenstände, große, kleine, für Häuser, Straßen, Plätze, Berge, Seen und so fort, auf denen niemals zuvor, vor der dann irgendwann doch stattfindenden Gelegenheit, unser Auge ruhte oder, was unserer Zeit das angemessenere Wort wäre: über das dann ein flüchtiger Blick nur huschte. Denn auch diese uns bisher unbekannten Dinge und Gegebenheiten forderten ja, kaum daß wir ihrer ansichtig würden, den oftmals nahezu zwanghaften Drang, uns erinnern zu wollen, welcher Zeitepoche beispielsweise jenes Gebäude, jene Vase oder dieses Auto da zuzuordnen sei, heraus; freilich müßte im Hintergrund eines solchen Einordnenerinnerns Geschmack, zumindest ein Quantum Wissen still das seine dazutun, was nicht immer der Fall ist, und dann ergeben sich Unstimmigkeiten in dem herauf geholten Bild, von Peinlichkeiten zu schweigen. Aber wenn wir diesen Einwand gelten ließen und unsere Wahrnehmung nur danach ausrichteten, würden wir dann bald nicht nur statt einer Milchkanne nur deren Blech, statt eines uns wegen seines unberührten Alters oder seiner neuen Extravaganz auffallenden Gebäudes nur dessen Steine, Mauern, das Glas und statt eines elegant gefaßten Edelsteins nur dessen Kohlenstoffexistenz sehen? Eine Ahnung von einem schöneren menschlichen Dasein – und auf nichts sind wir mehr angewiesen – wispert uns zu, auch und gerade den in so unzähliger Vielgestalt vorkommenden Dingen eine mal kaum spürbare, ein anderes Mal sogar fast schockhafte Intensität ihres Vorhandenseins zuzugestehen; eine Aura; Magie.

6./7.9.2000
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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