23
Dez

23.12.2002

Und der Krümmungshorizont des inneren Kosmos´, vielleicht auch als Bewußtseinshorizont zu nennen, der von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr in größere Entfernungen hinauswuchs, sich ausdehnte, von der Erkenntnis erweitert wurde, ist doch nur die immer unbekannt bleibende vorläufige Grenze des mit Ideen und anderen Bewußtseinsinhalten angefüllten winzigen vereinzelten Teils oder Anteils des äußeren, des überall vorhandenen Seins, als der der astronomische Kosmos in nun etwas unelaborierter Sicht, die sich an metaphysischen Konstrukten gar nicht erst versuchen will, aufgefaßt ist. Ja, der innere Kosmos ist schließlich nur ein Produkt der individuellen Form der universellen Materie, aus der wir kommen und in die wir, als Moleküle und Atome, wieder eingehen werden, als Daten auch; das ist dann zwar auch nicht das ewige Leben – oder, wenn man die Natur des Lebens unbedingt so sehen will, eines in eher reduziertem Umfang – , denn auch die Raumzeit dieses Universums, in dem ja eine Stadt wie Biberach am Flüßchen der Riß, die sowieso, aus der Distanz, die Zeit und Raum herstellen, manchmal wie eine größere Puppenstube für vorzeitliche Riesenkinder vor den Augen steht, als eine zu vernachlässigende Größe erscheinen mag, aus solchen kosmologischen Höhen betrachtet, wird sich einst, wenn es bis dahin auch noch etwas hin ist, erstarren, so daß kein Erwartungshorizont, für wen oder was auch immer, mehr übrig bleibt, aber wer will letztlich so großzügig-unwissend bestimmen wollen, in welchem anderen Sinn die Ergebnisse dieses Zerfalls- und Verstreuungsprozesses wirken und wohin – sozusagen vorausgeschickt die Kräfte des Bewußtseins, dieser energiever wandelnden Rätselhaftigkeit, die wohl doch nicht allein aus der massiven Zusammenballung von spezialisierten Zellen entspringt, gehen, also Punkt. Mir erscheint es außerdem nur als natürlich, daß die Vorstellung, einem Kosmos anzugehören, in dem diese Stadt und das Land, in dem sie steht, und die Hemisphäre, in der das Land liegt, und das Staubkorn, auf dem sich alles befindet, das seinerseits eines von mehreren ist, die von einer unbedeutenden Sonne, die im mittleren Stadium ihres Selbstverbrennungsvorgangs befindlich ist, herumgeschleudert wird, vom Beobachtungspunkt in einer irgendwo um vielleicht dreihundert Millionen Jahre voraus geeilten (oder in die Vergangenheit verschwundenen) anderen Galaxie aus betrachtet völlig irrelevant ist, etwas Erhebend-Flüchtiges an sich hat. Man muß sich das einmal in einer unheimlichen Sekunde gönnen und vor Augen führen, wie die Große Kreisstadt Biberach a.d. Riß noch die nächsten tausend oder zweitausend Jahre gottverlassen durch die (noch) unergründlichen Tiefen des Alls trudelt, um zu wissen, wo man steht; oder kopfüber hängt. Außerdem wird ja auch unser Planet verbrennen. Wenn also dieser aus Zellen, die Energie verbrennen, aus anständig funktionierenden und aus ausgeflippten (womöglich ein Echo meiner Bewußtseinszustände in früheren Jahren), zusammengesetzte Organismus, mit dem mein „Ich“, das Bewußtsein von mir selber – die Hirnforscher sind dabei, das Gerede vom Bewußtsein zu dekonstruieren – sich ziemlich verbunden fühlt und gebunden weiß, eines nicht allzu fernen Tages zu Asche wird, dann wird nur das geschehen, was einmal dem ganzen Erdenkreis und -grund, auf dem er herumirrte, widerfahren wird. Ist das nicht ein tröstlicher Gedanke?
- Temperaturen etwas unter null Grad. Die Schattierung des Graus über der Stadt, des „Himmels“, fast unverändert.
23.12.2002

22
Dez

22.12.2002

Wie in anderen nicht großen und von den Zerstörungen durch Krieg und die Zeitläufte im Wesentlichen ihres Daseins verschont gebliebenen Städten stellte der Winter auch in Biberach a.d. Riß das Idyllische stärker aus, besonders in den Jahren, in denen die dunkleren Monate mit Kristallflockenfall auf sanft-weiche Art aufgehellt wurden. Durch den von der Mitte der Fahrbahnen an deren Ränder geschobenen und geschaufelten Schnee, der dort wie in allen Städten kleine Wälle bildete – die in einer kleinen ehemaligen Reichsstadt die vage Erinnerung an die noch viel kleinere Stadt und die ihre Bürger und Patrizier und Kleriker vor den Unbilden der äußeren Welt abzirkelnde Stadtmauer hervorrufen können – wirkten die Straßen, Sträßlein und Gassen zumal des Stadtkerns natürlich, auf nicht natürliche, geplante Weise entstanden, enger, altmodischer, älter und altertümlicher als an Nichtwintertagen, und ich scheue nicht davor zurück zuzugeben, daß das winterlich-schneebedeckte Biberach mir in manchem Jahr viel besser als das sommerliche gefiel. Das Gemütlich-Behagliche hat seine Ecke in den Verzweigungen meines inneren Systems aus den in den Jahrzehnten angesammelten Gefühlen, Gedanken, Empfindungen, Wahrnehmungen, Deduktionen, Reflexionen und was sonst noch alles zum Bewußtsein dazu gehört; wächst man in so einer Stadt, die zudem von einer ansprechenden und anmutigen Landschaft um sie herum geprägt worden war, die das Stadtidyll gleichsam als Schutzkordon umgibt, auf, kann das wohl auch erklärlich sein. Es gefiel mir, durch den frischen Schnee der weiten Flächen des Gigelbergs zu gehen, die von hohen schneebeladenen Bäumen begrenzten, die, wie die Flächen, weiß im Sonnenlicht funkelten oder in der Abenddämmerung jenen Stich ins Bläuliche, die Aura des versinkenden Winternachmittags, bekamen, der eine besonders zaubervoll-fremd anmutende Illumination dieser Jahreszeit ist, in Gedankenräumen mich ergehend, die von der vorhin erst unterbrochenen Lektüre geöffnet worden waren; und hatte ich die Brücke über den „Hirschgraben“, in dem sich noch in den siebziger Jahren wirkliche Hirsche und Rehe aufhielten, dessen Bäume und Sträucher, eng zusammengewachsen, auf den steil abfallenden Hängen – auf der dem Stadtinneren zugewandten Seite ragt der übrig gebliebene grob-steinerne Rest der Stadtmauer, flankiert von den beiden Türmen, auf – in ihrem Kristallschmuck des Schnees diesen langen Graben weiß-prächtig ausstaffierten, hinter mir gelassen, hatte ich die „Schillerhöhe“ erreicht und sah ich an solchen frühen Abenden (da und dort leuchteten unten Lampen und Fenster) über die schneeigen Dächer (rote „Biberschwänze“, Dachplatten, lugten zwischen dem da und dort heruntergerutschten Schnee hervor) des unter mir liegenden dichten Häusergemenges, aus dem so wohlvertraute Giebel und Firste und Türmchen meinen Blick erwiderten, etwas, wie es schien, zusammengeduckt wegen der Kälte – dann fand ich es in Minuten der Übereinstimmung und Ruhe doch angenehm, an diesem Ort zu leben, denn mein – geistiges – Leben führte mich ja auch zu anderen Plätzen, zu anderen Zeiten, in einem weiteren Kosmos, in dem die kleine Stadt eingefügt, aber nicht meine einzige Welt war. Unten in der Stadt war der glänzende Schnee des Gigelbergs (oder des Lindeles) zu braungrieseligem Belag oder schon Matsch verarbeitet worden, von den hastigen Bewegungen einer Kleinstadtrushhour, doch dämpfte in einem richtigen Winter selbst diese un-schöne Konsistenz des Geflockten die urbanen Geräusche; ich sah dann zu, in den „Strauß“ oder „Rebstock“ zu gelangen, oder in eine Bäckerei; oder ins Kino.
- Kalt, und grau der Himmel über Berlin.
22.12.2002

21
Dez

Nar(r)zis

nar-r-zi

20
Dez

20.12.2002

„Ich habe mein Leben doch bewältigt“, sagte meine sterbensmüde Mutter in jener tiefen Spätherbstnacht; dachte sie, sich mir gegenüber rechtfertigen zu müssen? Das „doch“ hörte ich durchaus genau, es fiel sogleich aus diesem Satz, dieser Äußerung in mein vom Alkohol keineswegs reduziertes Bewußtsein. Mir mißfiel diese Äußerung, die mir freilich schon damals sofort zu denken gab, denn wie hört sich so ein Satz an? Wie ein Resümee, eine abschließende Feststellung – in einem inneren Zustand, in dem das Hoffen nichts mehr bewirken kann und auch gar nicht mehr soll – am Ende des Lebens, die dann getan wird, wenn man nichts mehr vor sich und alles hinter sich sieht. Diese Äußerung mißfiel mir nicht nur, weil sie mein Erahnen, das ich seit zwanzig und weit mehr Jahren mit mir herumtrug, wieder so unmittelbar auffrischte, sondern auch deshalb, weil ich ihr nichts hätte entgegensetzen können als ein akzeptierendes, beruhigendes, gleichzeitig verärgertes „Ja, ja“. Wie war in einer Nacht wie jener mit solchen Übermittlungen, die – und mir war das sehr gut bewußt – aus tiefer innerer Not und Bedrängnis aufgestiegen und in die Nacht gekommen waren, umzugehen? Das „doch“ sagte mir, daß meine Mutter insgeheim selbst daran zweifelte, daß sie sich fragen mußte, ob es stimmte, was sie mir als ihre Ansicht ihres Lebens in diesem einen Satz sagen wollte. Dachte sie, ich könnte sie aus irgendwelchen Gründen nicht achten, ich würde sie als lebensängstliche, schwache Persönlichkeit sehen? Etwas in dieser Art? Und es stimmte, aber nur für Augenblicke, für die ich mich danach selbst zur Rechenschaft zog: manchmal verwünschte ich die Ängste, die sie beherrschten, und die Depressionen, und ihre oft nur mühseligen und unbrauchbaren Versuche, sich von ihnen nicht bis in die tiefste Seele – die Seele umfaßt das Bewußtsein – hinein zerstören zu lassen. Ich verfluchte dann die Verhältnisse, in denen meine Mutter lebte (zu denen auch ich meine negativen Stimmungen – doch wer kann diese ganz von sich fernhalten? – beitrug), sie schienen mir nichts anderes als ein Neurosensyndrom zu sein, in dem sie und ich und alle Handlungen, Gedanken und Abwehrhaltungen meinerseits sich verstrickt hatten. Meine Mutter litt auch an mir und ich an ihr; beide wußten wir das, und ein Entkommen aus dieser Lage war nicht möglich. Nicht möglich? Es war möglich – der Tod bot diese Möglichkeit. Mama wußte, daß ich Biberach fliehen wollte; „ich kann hier nicht vierzig werden“, war es eines Tages im Jahr 1983 aus mir heraus gebrochen, in einem meiner unterdrückten Wutzustände, in denen mir mein Leben als ganz falsch geführt und als Wüste vorkam. Sie hatte irgendwann in einem anderen Jahr, als ich in der Karpfengasse das freie Leben zu haben glaubte (aber auch nicht so richtig), gesagt: „Hier ist doch deine Heimat“, und sie hatte die Wohnung damit gemeint, in die wir 1975 gezogen waren; aber ich konnte mir gut denken, daß auch sie diese lächerliche Wohnblockwohnung nie als „Heimat“ betrachten konnte, denn die war – für sie übrigens ein zweites Mal – mit dem Verlust der Lindelestraßenwohnung verloren gegangen. Wollte meine Mutter mir die Freiheit verschaffen, Biberach verlassen zu können; wenn sie nicht mehr lebte? Hatte sie ihren Schritt in den Tod nicht in unsäglicher Verzweiflung, sondern auch aus mütterlicher Hoffnung für mich, die in ihren Leiden an der Welt noch immer vorhanden war, getan? Ich habe oft darüber nachgedacht und werde diese Frage, die ich mir bald stellte, als sie nicht mehr da war, nie beantwortet bekommen. (Der Pfarrer, der mich vor dem Begräbnis besuchte und dessen Worte ich mir höflich anhörte, sagte, meine Mutter habe ihm, als er sie gefragt habe, ob sie an einer kirchlichen Angelegenheit, die er im Gespräch zwar erwähnte, die ich freilich auch vergessen habe, teilnehme, geantwortet: „Da bin ich weg!“, und das „weg!“ wiederholte der Pfarrer zweimal, weil ihm der Ton so merkwürdig vorgekommen sein mochte; ich sagte ihm nichts von den leeren Schachteln.) Meine Mutter war seit acht Jahren tot, als ich in Biberach doch – „doch“ – vierzig Jahre alt wurde. Es war ein mieser Geburtstag, den ich mit einer Flasche „Dimple“ begoß.
- Etwas Sonnenschein, kalt-feucht.
20.12.2002

19
Dez

19.12.2002

In der Märzmitte von 1984 gab ich meine Kinokammer auf. „Wieso denn, du kannst doch da bleiben!?“, entgegnete A.K. auf diesen Entschluß. Aber ich war so sauer auf den Job, er fiel mir so auf die Nerven, daß ich entschieden hatte, die Räumchen-Episode zu beenden. Thomas half mir, die beiden blauen Sessel – die schon in der Karpfengasse samt dem dazugehörenden langen Sofa gestanden hatten – und Bett, Schreibmaschinentischchen, Stehlampe (mit dem uralten zerschlissenen safrangelben Schirm), Kühlschrank und einen Stuhl hinunter zu tragen und in seinem Auto zu verstauen. In zwei Fuhren erledigten wir das. Die Bücher, die drei Jahre und zweieinhalb Monate auf einem Regal neben dem Bett, unter der Schräge des Daches, aufgereiht gewesen waren, fanden nun auch wieder ihren Platz in der Wohnung. Das auseinander genommene schwere alte Bettgestell kam in den Keller, der von den überflüssigen und in Jahrzehnten von meiner Mutter angesammelten Dingen überquoll. In meinem Zimmer stand ja ein Bett. Das Schlafzimmer und seine Möbel ließ ich unberührt. (Frau H. kümmerte sich im Sommer darum, die Möbelstücke zu verkaufen.) Dieses Zimmer wurde bis zu meinem Auszug am Ende des Augusts nicht benützt. Im Frühjahr setzte ich es durch, daß ich vormittags nicht mehr zur Arbeit – in diesen Stunden ohnehin oft nur ein Zeittotschlagen gewesen war – erscheinen mußte. Es gab deswegen für einige Zeit schlechte Laune auf beiden Seiten, doch die, doch das, war ich ja längst gewöhnt ... Jeden Tag dachte ich daran, wie ich aus dem Job wieder herauskäme, doch meine Schulden, die jetzt wieder einmal angewachsen waren – mit der Ausnahme einiger unbezahlter Rechnungen und der Wohnungseinrichtung hatte meine Mutter mir ja nichts hinterlassen können – , hielten mich vor unbedachten Aktionen zurück. Zwar war ich nun ungebunden und „frei“, mußte auf niemanden mehr Rücksichten nehmen (nur auf den Kater und mich), doch „frei“ und ungebunden war ich eben doch nicht, das herkömmliche Leben – und das sogenannte freie der siebziger Jahre, dessen Folgen die Schulden und somit der Job waren – fesselte mich unerbittlich in diesen Verhältnissen, und ich verfügte auch über keine klaren Vorstellungen – hatte ich je klare Vorstellungen von meinem Leben gehabt? – von einer eventuell anderen Existenzweise, denn daran, daß ich plötzlich „vom Schreiben leben“ hätte können, war gar nicht erst zu denken, und ich hätte mich, denn schließlich kannte ich die Nichtmöglichkeiten, die das Städtchen bot, gut genug, schwer getan, auf einer anderen „Stelle“ zu Lohn und Brot zu kommen. Und auch der Kinobetreiber wußte das natürlich. So rauften wir uns nach den Auseinandersetzungen, die er und ich, aus mancherlei Gründen, die detailliert auszuführen hier der Ort nicht ist, und sie entzündeten sich ja immer nur an Lächerlichkeiten, ausfochten, in einer Lautstärke zuweilen, die ich für meinen Teil während der Monate bei der Bundeswehr erlernt hatte (und ich konnte beachtlich brüllen ...), die unsere Stimmbänder beanspruchten, stets zusammen; er hatte mir in einer schwierigen Situation geholfen und ich fühlte mich dadurch verpflichtet, meine Abmachung einzuhalten und konnte schon aus diesem Grund nicht „fahnenflüchtig“ werden; außerdem mußte ich ja von irgendetwas mein „Kümmerleben“, wie Klaus L. dazu sagte, fristen; und A.K. hatte, alles in allem, in mir einen engagierten und zuverlässigen (und billigen) Angestellten.
- Sonnenwetter.
19.12.2002

18
Dez

Bild: Peter Waibel

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17
Dez

Bild: Peter Waibel

Peter-WaibelRIMG0018

16
Dez

16.12.2002

Im frühen dunklen Abend eilte ich hinab zum Mühlweg, an dessen Ende die großen Hallen der „Liebherr-Werke“ liegen und das dazugehörende Verwaltungshochhaus, das meines Wissens am Ende der fünfziger Jahre dort gebaut worden war. Dem Wohnblock gegenüber, auf den ich zuschritt, den es ja noch immer gibt, ragt das „Liebherr-Hochhaus“, ein Wohngebäude im typischen Stil der Endfünfziger und ein markanter Punkt in der Stadt, auf. (Wenn ich mich nicht irre, ist diese Straße, die in alten Tagen ihren Namen von der Gaupp’schen Mühle an der Riß, die dort durch das Tal fließt, erhalten hatte, inzwischen nach jenem oberschwäbischen Entrepreneur genannt worden, dessen Kräne auch die Lasten für die Bauten am Potsdamer Platz hievten; die Familie ist milliardenschwer, ihre in- und ausländischen Werke produzieren nicht nur Kräne; im Zimmer der Tagesklinik der „Inneren“ der Charite, das aufzusuchen mir in den zurückliegenden Monaten seit Beginn letzten Jahres wegen der prinzipiell wöchentlichen Chemotherapie-Gaben – obwohl dieses Prinzip immer wieder wegen der Nebenwirkungen der Medikamente durchbrochen werden muß – , die mir noch für eine Zeitlang das Überleben ermöglichen sollen, nicht erspart bleibt, steht ein kleiner „Liebherr“-Kühlschrank – so werde ich dort immer an meine Geburts- und Lebensstadt erinnert; ich sagte das den Ärztinnen und Ärzten. Einige von ihnen kennen Biberach dem Namen nach, nur Frau Dr. F. ist einmal in Biberach gewesen: das Pharmazieunternehmen Boehringer-Ingelheim hat hier einen bedeutenden „Standort“, der in den achtziger Jahren dem Großbetrieb zugeordnet worden war und davor viele Jahre lang als „Thomae“ der Stadt ein unverzichtbarer Gewerbesteuerzahler gewesen war und das heute mehr denn je ist. Die Firma betreibt an der Riß neben der Herstellung von Medikamenten aller Art auch eine der weltweit wichtigsten – und fragwürdigen – gentechnischen Forschungsstätten. In der Hermann-Volz-Straße besaßen wir einen „Liebherr“-Kühlschrank, hergestellt in der Fabrik in Ochsenhausen, einer wirklich kleinen Kleinstadt (ein Kleinstadtdorf eigentlich nur) nicht allzu weit von Biberach in östlicher Richtung entfernt.) Ich drückte den Klingelknopf rechts von der Haustür des vierstöckigen Genossenschaftswohnblocks, der zwischen anderen, aufgebaut in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, stand; steht. In einem von ihnen wohnt seit einiger Zeit Thomas.) Ich klingelte bei „Lüring“, bei „Tante Emmi“, der Cousine meiner Mutter, der kleinen zierlichen, stets unverheirateten und frommen Frau, die an einer Schulter einen kleinen Buckelansatz hatte. In Schlesien war sie Schneiderin gewesen, hatte in den Sechzigern auch hin und wieder in Biberach geschneidert. Ihre Eltern, mit denen sie Ende der fünfziger Jahre nach Biberach gekommen war, lagen schon lange unter der Erde. Ich ging die Treppe hinauf, betrat ihre Wohnung, das Wohnzimmer, in dem die Möbel eng standen. Vor vielen Jahren waren hier Geburtstagsfeste mit so vielen Gästen, daß das Zimmer sie kaum hatte aufnehmen können, gefeiert worden. Nur wirkte den Wohnraum eigentümlich verwaist. Ich stand vor ihr und sagte: „Mama ist tot.“ Sie sah mich an, von unten, denn sie war ja kleiner als ich, setzte sich dann auf einen Stuhl. „Ach Kusinchen ...“, sagte sie nach einer Weile leise in die dunkle Stube hinein. Ich sagte noch etwas; was? Wir saßen am massiven Wohnzimmertisch und schwiegen. „Sie war vor ein paar Tagen hier“, sagte meine Verwandte (die einzige, die ich nun in Biberach hatte) dann, „sie wollte es da schon tun.“ Ich nickte traurig. Der Alkohol, den ich mir gegeben hatte, kreiste in meinem Kopf. Ich war keineswegs betrunken. Ich sagte, daß der Arzt und die Leute vom Bestattungsinstitut da gewesen seien; die Dinge nähmen nun ihren Lauf. Ich war in einem Zustand, den man „aufgekratzt“ nennt. Wieder waren wir still. Schließlich verabschiedete ich mich und ging in der Rollinstraße zur Innenstadt, in sie hinein zum „Storchen“, in dem schon die ersten Abendtypen herumhockten und vereinzelt den Tresen mit ihren Ellbogen beschwerten. Till stand an der Theke. Ich stellte mich neben ihn. Bestellte Rotwein. Er und ich wechselten ein paar Worte. „Meine Mutter ist heut gestorben“, sagte ich und kam mir mit diesen Worten seltsam vor. Er sah nur kurz zur Seite. „Hart“, meinte er. Ob er mitginge, eine Pizza oder sowas zu essen, ich würde ihn einladen. Er müsse sehr bald gehen, fahre mit der Bahn zurück zum Studienort. Ich hatte gar nicht gewußt, daß er in der Stadt war. Ob ich ihm fünf Mark leihen könne. Ich gab ihm fünf Mark. Ich war gar nicht sehr enttäuscht, ich kannte ja seine Art. War ihm nicht böse. Er trank sein Glas leer und ging. Ich schaute ihm nach und dann durch die Kneipe, ich wollte nur mit jemandem ein bißchen reden. Anselm, ein junger, etwas gedrungener, pausbäckiger Typ spanischer Abstammung, mit dem ich seit zwei, drei Jahren gelegentlich Backgammon im „Alten Haus“ spielte, der der Literatur etwas abgewinnen konnte, kam an die Theke, um mich in seiner immer etwas theatralischen Art zu begrüßen. Sie störte mich nicht. Man konnte sich mit ihm unterhalten. Ihn fragte ich, ob er mir Gesellschaft leiste; meine Mutter ... Wir verließen dieses letzte Biberacher Freaklokal und gingen ein paar Schritte um ein paar Ecken und setzten uns in eine altbekannte Pizzeria, in der wir zu dieser Stunde noch die einzigen Gäste waren. Ich bestellte einmal Wein und Grappa. Sagte etwas, sagte wieder etwas ..., war aber eher einsilbig. Anselm hörte verständnisvoll zu, entgegnete Sätze, die nicht übertrieben mitfühlend in einem fast sachlichen Ton daherkamen, und das beruhigte mich ein wenig. Ich zitterte innerlich, jedoch nicht die Winterkälte war die Ursache dafür. Wir aßen Pizza. Ich mußte etwas zu mir nehmen. Tranken Grappa. Vor der Pizzeria ging A. dann nach links, ich nach rechts. Nun war der Abend älter geworden. Ich mußte noch zum Kino, um die Publikumsdiskussion über den letzten Film des an diesem Abend beendeten Nazi-Film-Seminars mit Dr. Albrecht vom Deutschen Filminstitut zu protokollieren. Der Alkohol summte in meinen Neuronen, ich war nicht betrunken, nur von der Welt etwas fortgerückt. Ich vertrug damals eine Menge. „Du verträgst einen Stiefel“, hatte der Kinobesitzer einmal zu mir gesagt; er sah es nicht gern, daß ich stets etwas alkoholisiert zur Arbeit erschien, fand sich, nach süffisanten Bemerkungen über meine Fahne, zuweilen aber damit ab. Ich war Spiegeltrinker. In der hintersten Sitzreihe des „Urania“-Kinos belegte ich einen der Klappstühle, zog Notizblock und Filzstift aus der Anoraktasche und protokollierte. „Meine Mutter ist tot, und ich sitze hier, als sei nichts geschehen“, dachte ich. Alles war strange. Alles war absurd. Das ganze Leben ist ja absurd; so dachte ich seit langem. Nach Schluß der Diskussion ging ich aus dem Kino, durch die frostkalten Straßen, über den Marktplatz, zur Diskothek „Take Five“. Dort konnte man noch einen Schluck zu sich nehmen. Ich stellte mich an die Theke des verschummerten Ladens, die in kantiger Hufeisenform um den Barbereich verlief und orderte Rotwein. Es war spät, als ich aufbrach. Roland R., der Disko-Betreiber, schrieb die zehn Mark, die ich vertrunken hatte, an, ich hatte kein Geld mehr dabei. Ich war ja seit vielen Jahren Gast. Mein Weg führte in der Winternacht durch die menschenleere Stadt zur Wohnung an der Hermann-Volz-Straße; nie mehr würde dort meine Mutter nachts mein Zimmer betreten, um mich müde bittend zu veranlassen, doch zu Bett zu gehen. Mein Leben würde sich nun, ab diesen Minuten, in denen ich durch die Straßen ging, verändern. Es war eigenartig. Ich war sehr einsam.
- Grauer Tag, nicht mehr gar so kalt.
16.12.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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